Gentrifizierung, umgedreht
Ich bin hier geboren und lebe seit 32 Jahren in Wien und habe es so satt, mich von so genannten echten Österreichern beschimpfen zu lassen. Mit welchem Recht werden die Kinder hier im Bau fotografiert oder mit der Kamera aufgenommen? Meiner Tochter wird ständig mit Wiener Wohnen gedroht, weil ich mir nichts gefallen lasse, wenn die alte Dame aus dem Fenster herunterschreit wie eine Irre. Ausländer? Meine türkische Nachbarin dagegen ist für die alte Dame eine gute Person. Aber erst, seit dem sie von der Türkin mit Baklava und anderen türkischen Spezialitäten versorgt wird. Seiher gibt´s keine Probleme mehr, vorher war die türkische Familie Problem Nummer 1 im Gemeindebau, deswegen folgte eine Beschwerde der anderen. Bekommen selber keine Kinder und drohen anderen Kindern mit Polizei, Jugendamt und Wiener Wohnen. Die Österreicher sammeln sich zusammen und reden hinterrücks und planen, wie sie es am besten erreichen können, uns Ausländern eins auszuwischen. Ja, wir sind sehr unterschiedlich – wir haben das wärmere Blut in uns. Egal wann und egal was, zu meinen ausländischen Nachbarn kann ich jederzeit gehen und verlangen, was ich brauche. Selbst wenn es Brot ist, der ausländische Nachbar sagt nicht nein. Im Bau war heute das Jugendamt bei einer Familie, danach war eine Kontrolle, die gegen 9 am Abend da war und im Hof Fotos machte. Dabei gäbe es wirklich einiges zu kontrollieren: Warum z.B. gibt es eine Sauna auf der Stiege 2 im Keller, die nur für bestimmte Leute, zufällig alles reine Österreicher, zugänglich ist? Unseren Kindern wird nicht einmal eine Rutsche hier angeboten, aber alles ist super grün und Hauptsache ist, dass immer wieder gemäht wird. Wofür? Zum Gucken?? Wir zahlen genau so mit und wir gehen auch arbeiten und wir kennen reine Österreicher, die nicht arbeiten gehen, aber was geht mich das an? Das ist doch scheißegal. Ich hätte auch Rechte und Anlässe, mich zu beschweren, aber wie gesagt, ich habe das wärmere Blut in mir!
Was sagt uns dieser Beschwerdebrief (der keiner sein will) aus einer Wohnanlage des Roten Wien, ein Dokument aus dem Jahr 2012? Erstens, dass sich zu viele Menschen, die in einer Wohnanlage nachbarschaftlich leben, einander das Leben schwer machen. Man könnte leben, aber man lebt nicht. Das Misstrauen zieht sich von der Einserstiege bis zur Siebzehnerstiege. So manche Stiegenhäuser sind die parzellierten Höllen vor der Hölle. Zweitens, die Menschen, deren Eltern als «Gastarbeiter» aus dem Ausland zugereist waren, sind selbstbewusster geworden. Vor einem Jahrzehnt wäre ein solcher Beschwerdebrief noch sehr ungewöhnlich gewesen. Sich zu beschweren, galt als Recht der Alteingesessenen. Aber was ist «alteingesessen»?
Drittens aber zeigen solche Geschichten, dass der geschichtliche Fortschritt – wenn es einen solchen gibt – heute eher nicht im Wiener Gemeindebau zuhause ist, auch nicht in dem des Roten Wien, und dass er sich generell nicht in dessen BewohnerInnen verkörpert. Um diesen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sollte man hinzufügen, dass auch andere soziale Schichten, Gruppen, Klassen den historischen Fortschritt – wenn es einen solchen gibt – nicht verkörpern, sondern dass das Individuen an ihrer Stelle tun, aus welchen Milieus auch immer. Solche Individuen wären natürlich auch im Gemeindebau zu finden. Der «Wissenschafts»-Gehalt im Marxismus ist auf keinem Feld von der Wirklichkeit deutlicher negiert worden als in der Angelegenheit der so genannten «Gesetzmäßigkeit» des Fortschritts. Nach dem Sieg der sich damals noch direkt auf Marx und Engels berufenden Sozialdemokratie bei den Wiener Gemeinderatswahlen nach dem Ersten Weltkrieg war in der «Arbeiterzeitung» am 5. Mai 1919 folgende bescheidene Prognose zu finden: «Rot flammt es am Horizont und kündigt den herrlichen, unwiderruflichen Sieg des Sozialismus an.» Das schien in der Folge zunächst gar nicht so übertrieben zu sein, vor allem, wenn man ein paar Jahre nach diesem Wahltriumph miterlebte, wie sich die Wiener Bezirke veränderten: 64.000 kommunale Wohnungen in rund zehn Jahren! Die 1923 gestartete Wiener Wohnbauinitiative sucht ihresgleichen – das zum Bau gewordene Rote Wien musste doch für gläubige SozialistInnen der Beweis dafür sein, dass der Sozialismus «unwiderruflich»zu siegen angefangen hatte.
Die rote Route
Um zu sehen, dass diese Illusion sich seinerzeit geradezu aufdrängen musste, empfehlen wir einen Spaziergang entlang der Kette folgender fünf Gemeindebauten des 5. Bezirks: Reumannhof, Metzleinstaler Hof, Matteottihof, Herweghof und Julius-Popp-Hof. Nirgends sonst hat sich das Rote Wien dichter manifestiert als in Margareten.
Wir beginnen mit dem Reumannhof, Margaretengürtel 100 -112, errichtet in den Jahren 1924 bis 1926. Der Architekt Hubert Gessner trieb hier die Schlossähnlichkeit auf die Spitze, was ihm bewundernde Zustimmung bescherte (die Vision, dass die werktätige Klasse in Palästen wohnen wird, während die Eliten kompensatorisch endlich Platz in den Gefängnissen kriegen würden, hatte in der Tat etwas Elektrifizierendes), aber auch Kritik. Kontrastierte doch der demonstrative Prunk des Superblocks mit der Bescheidenheit der inneren Wohnverhältnisse. Dafür hat der Architekt großzügig Details verstreut, die Thema einer speziellen Führung sein könnten: Sowohl die Beleuchtungskörper sind eigene Kunstwerke als auch die Stiegennummerierung, und viele andere Kleinigkeiten mehr. Hätte der mittlere Block des Reumannhofes wirklich 16 Stockwerke, wie es Gessners Plan vorsah, wäre dieser Gemeindebau zum repräsentativsten Stück der Baugeschichte des Roten Wien geworden. Es wurden schließlich nur acht Stockwerke.
An den Reumannhof schließt sich der Metzleinstaler Hof an, Margaretengürtel 90 – 98. Er war als bürgerliches Mietshaus entstanden, wurde aber von Gessler entbürgerlicht und auch ästhetisch an die Architektur des Roten Wien herangeführt. Es folgt der Matteottihof, der nicht direkt am Gürtel liegt, sondern ein wenig in das Innere Margaretens hineinversetzt; die monumentale Toreinfahrt über der Fendigasse ist eine Art neuzeitliches Stadttor. Das Kennzeichen des Herweghofs, Margaretengürtel 82 bis 88, sind die straßenseitig gelegenen Arkaden, die – wie an einem anderen Gürtelabschnitt, nämlich entlang der Stadtbahnbögen, bereits praktiziert – trotz des menschenverachtenden Verkehrs an dieser Hauptverkehrsader mit urbanen Funktionen ausgefüllt sein könnten; die Stadtregierung überhört die Hilfeschreie der Arkaden und vergibt die Läden hinter ihnen leider nicht so, dass sie zu Ausgangspunkten von Belebungsprozessen werden könnten. Auch der Herweghhof bietet Kunstwerke im Kunstwerk an: überraschende Details wie die Klopfstangen oder die Pergolen, jugendstil-like. Schließlich der Julius-Popp-Hof am Margaretengürtel 76 – 80, der nach außen hin wie ein Zwilling des Herweghofes wirkt.
«Ich glaube nicht, dass sich weltweit etwas Vergleichbares findet», meinte Andreas Nierhaus, der als Kurator für Architektur in der Ausstellung «Kampf um Wien» des Wien Museums das Kapitel über das Rote Wien verfasste. In den 1920er-Jahren habe es in Berlin und Frankfurt ganz tolle Wohnbaukonzepte gegeben, sagte Nierhaus, jedoch sei hinter ihnen «nicht dieses umfassende sozialreformerische Konzept» gestanden. Allein der Umfang sei nicht zu vergleichen: Für «Neues Frankfurt» entstanden in den 1920er-Jahren 12.000 Wohnungen, etwa ein Fünftel des Wiener Volumens.
Die aufgezählte Kette der Gemeindebauten am Margaretengürtel aus der austromarxistischen Episode der Stadtgeschichte ist unter Freunden und Feinden als «Ringstraße des Proletariats» bekannt. Die Ironie der Geschichte besteht darin, dass die fünf betreffenden Gemeindebauten, die heute noch einen markanten Teil des 5. Bezirks definieren, erst heute so richtig proletarisch sind. Als die Wohnungen in den 1920er Jahren vergeben wurden, waren es nicht die typischen Industriearbeiter und ihre Familien, die hier in erster Linie mit kommunalem Wohnraum versorgt wurden. HistorikerInnen der ArbeiterInnenbewegung haben darauf hingewiesen, dass die «Ringstraße des Proletariats» überwiegend von Angehörigen der Wiener «Arbeiteraristokratie» bewohnt wurde, wie Karl Marx die materiell zur Mittelschicht tendierende Arbeiterklassenfraktion nannte. So lag der Anteil industrieller bzw. handwerklicher ArbeiterInnen unter den BewohnerInnen damals unter dem Wiener Durchschnitt, während überdurchschnittlich viele BeamtInnen und Angestellte in den fünf Gemeindebauten wohnten.
Vergleicht man die soziale Charakteristik der BewohnerInnen damals und heute, könnte man zur Ansicht kommen, auf der «Ringstraße des Proletariats» sei ein umgedrehter Gentrifizierungsprozess abgelaufen. Die Welt, die ein Auseinanderfallen der Metropolen in Viertel der VerliererInnen und gated communities der Reichen zur Genüge kennt, staunt über die Kraft der roten Superblocks, in innerstädtischen Bezirken wie Margareten, auf dessen zentrumsnahe Lage jeder Markt mit hohen Wohnungspreisen reagiert, dennoch eine soziale Durchmischung der Wohnbevölkerung in die Epoche des Neoliberalismus hinüber zu retten. Das ist zwar nicht ganz der «herrliche, unwiderrufliche Sieg des Sozialismus», den das Parteizentralorgan prophezeite, aber es ist ein sympathisches Stück Nachhaltigkeit, das der sozialdemokratischen Wohnungsoffensive der 1920er Jahre nachgesagt werden kann. Die Kehrseite ist eine Konzentration der Armut im Gemeindebau, die unter den Bedingungen der Entpolitisierung weniger zu solidarischen Handlungen der MieterInnen führt, sondern – siehe oben – zur Eskalation von Alltagskonflikten. So haben sich die fortschrittlichen Architekten den «neuen Menschen», zu dessen Geburt sie durch ihre Architektur einen Beitrag leisten wollten, nicht vorgestellt. Viele dieser «neuen Menschen» sind in den 1930er Jahren zu Hitler übergelaufen; sie haben mit den Füßen gegen die Philosophie der irreversiblen Tendenz zur Verbesserung der Welt abgestimmt.
Robert Sommer
INFO-BOX
Österreichisches Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum
(Otto-Neurath-Museum)
Ausstellung „100 Jahre Leben und Wohnen in Wien“
Öffnungszeiten:
Montag bis Donnerstag: 9.00 – 18.00 Uhr
Freitag: 9.00 – 14.00 Uhr
http://www.wirtschaftsmuseum.at/
Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung
Öffnungszeiten:
Dienstag bis Donnerstag 10-16 Uhr
und nach Vereinbarung
Tel. 0 1-545 78 70
http://www.vga.at/
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