Doktor Wagners Bergbahn
Wie oft ist der Name Otto Wagner auf www.stadtflanerien.at schon vorgekommen? Oft, aber nicht oft genug. Er hat Wien kultiviert wie kein anderer Architekt. Den ersten seiner großen Aufträge, die ihm erlaubten, der Stadt seinen Stempel aufzudrücken, bekam er 1894 vom Handelsministerium der k. & k. Monarchie, das auch für das Eisenbahnwesen zuständig war. Otto Wagner war für die künstlerische Ausgestaltung der Hochbauten und der Brücken für alle vier Linien der Wiener Stadtbahn zuständig: Wientallinie, Gürtellinie, Donaukanallinie und Vorortelinie. Einmal mehr ein Hinweis auf die Modernität der Stadtplanung in den letzten Jahren der Monarchie? Haben wir es mit Oberbürokraten (wie dem damaligen Handels- und Verkehrsminister Ladislaus Gundacker von Wurmbrand-Stuppach) zu tun, die in der Lage waren, die zukünftige Bedeutung Wagners, lange bevor dieser als DER Vertreter der Moderne in der österreichischen Architektur berühmt werden sollte, zu antizipieren?
Zu dick aufgetragen wäre hier des Grafen Aufgeschlossenheit. Der Minister wandte sich nicht direkt an Otto Wagner, sondern an das Künstlerhaus, die Genossenschaft bildender Künstler Wiens – zu dieser Zeit eine konservative Institution. Das Künstlerhaus solle eines seiner Mitglieder als künstlerischen Beirat der Stadtbahn-Kommission nominieren. Otto Wagner wurde ausgewählt. Was dann geschah, war eine Umwandlung der zunächst ins Auge gefassten beratenden Rolle des Beirats in eine aktiv gestaltende. Otto Wagner scheint die Kommission davon überzeugt zu haben, dass es besser wäre, ihm die ästhetische Seite der Angelegenheit ganz und gar zu übertragen, anstatt ihn schon vorhandene oder noch zu erwartende Entwürfe überarbeiten zu lassen. Die Selbstverwirklichungsmaschine Wagner bescherte uns WienerInnen eine Stadtbahn, die zum schützenswerten kulturellen Erbe der Städte zählt. Dabei hatte der in die Kommission gewählte Architekt noch nie ein Verkehrsbauwerk realisiert. Die Häuser, die er bis dahin in Wien realisiert hatte, waren nicht besonders aufmerksamkeitserregend. Hätten Kollegium, Minister und Künstlerhaus geahnt, welche Entwicklung Wagner dann nehmen wird, wäre er möglicherweise nie der Architekt der Wiener Stadtbahn geworden. 1899 trat Wagner aus dem Künstlerhaus aus, verabschiedete sich vom Historismus und wurde zur Verkörperung des Jugendstils. Das Bahnhofsgebäude in Gersthof, 18. Bezirk, ist jedoch noch ein Produkt aus Prä-Jugendstil-Zeiten (was WienführerInnen nicht daran hindert, vom «Jugendstilbahnhof» zu reden).
Otto Wagner hat den Stadtbahnauftrag als historistisch orientierter Architekt erhalten und die ersten Entwürfe erwartungsgemäß ausgeführt. Dazu gehörten eben die Stationen der Vorortelinie. Die Pavillon-Stationen der jüngeren Linien haben wenig mit Gebäuden wie in Gersthof gemein. Immerhin, Otto Wagner konnte seine Revolution durchführen, ohne den Auftrag zu verlieren. Ich musste lange nachdenken, ob ein heutiger Otto Wagner als Partner der Politik und der Verwaltung vorstellbar sei; die Zeit war natürlich vergeudet, denn weder gibt es einen heutigen Otto Wagner, noch würde die Politik den Mut haben, das fast gesetzmäßig hereinbrechende Ressentiment gegen die Moderne, zu dessen Plattform sich fast gesetzmäßig die Kronenzeitung erklären würde, in Frage zu stellen.
Amtlich heißt die 1987 für den Personenverkehr wiedereröffnete Vorortelinie S 45. Die Strecke von Hütteldorf durch die «Vororte» nach Heiligenstadt und weiter zum Handelskai wird in einer knapp halbstündigen Fahrt absolviert. Die Liniennummer entstand auf Vorschlag von ÖBB-Mitarbeitern: Die Strecke verbindet nämlich die S 40 auf der Franz-Josefs-Bahn und die S 50 auf der Westbahn. Die S 45 gilt in Fachkreisen aufgrund ihrer Steigungen, ihrer engen Kurvenradien, ihrer Tunnels und Viadukte als Bergbahn. Die Ausfahrt vom Bahnhof Hernals hinauf nach Gersthof, ebenso die Passage durch den Türkenschanzpark im 18. Bezirk sind selbst für Menschen, für die diese Abschnitte hin und retour zum Alltag zählen, schöne Stadterlebnisse. Die Querung des Türkenschanzparkes durch die Vorortelinie ist kein Anschlag auf den Park, sondern eine Verneigung vor dem Park. Die Passage aus Elfriede Jelineks Internet-Roman «Neid» richtet sich gegen alle Klischees von der Feindlichkeit, die zwischen Stahl (als Metapher für den Industrialismus) und der Natur herrsche, warum soll man diesen Text nicht auch auf die Vorortelinie münzen:
Doch die Schienen liegen da, freundlich und still, manchmal glitzernd im Regen. Ihnen ist es egal. Sie nehmen es, wies kommt. Sie geben es, wies geht. Stahl als Inbegriff von Treue zum Standort, zum Boden, über den er führt, in zwei parallelen Linien, bis zum Horizont? Der Stahl, über den so viele hinweg fliegen, in der Luft, der Stahl, über den sie hinwegrollen, die Räder? Der Stahl der Eisenbahnschienen? Ja, sie werden immer noch gebraucht, und diejenigen, die schon da waren, sind immer noch in Gebrauch. Die Gegend nimmt sie sanft und offen auf, diese Schienen, und inzwischen gehören sie zur Landschaft, als wären sie hier gewachsen. Doch er wurde erzeugt, der Stahl, am liebsten würde ich ihn mit einem Wald vergleichen, der ja auch einmal gesetzt wurde und jetzt, da er gesetzter geworden ist, für immer, zumindest bis er geschlägert wird, hier wohnt, als wäre er nie nicht gewesen. Die Schienen liegen hier, als hätten sie nie erzeugt worden sein müssen. Der Wind streicht über den Stahl, den Menschen gemacht haben. Sie konnten damals etwas dafür. Sie bekamen damals etwas dafür. Sie konnten den Stahl erschaffen, der jetzt so natürlich hier liegt wie ein Stern, der allerdings steht, am Himmel, während die Landschaft unter dem Sturm wie Wellen wogt. Auf ihrem weißen Bett aus Schotter gehen sie nun weiter, die Schienen, die Eisenbahnschienen, und sie führen uns, nein, sie führen unter uns davon, in die Ferne, wohin wir auch müssen, denn der Zug verlässt seine Schienen nur selten und nur, wenn er muss.
Als der Journalist Uwe Mauch für seine «Lokalmatador»-Porträts im Augustin den Ex-Eisenbahner Franz Deim interviewte, traf er auf einen Menschen, der das Objekt des Begehrens mit Jelinek teilte. Allerdings brauchte er dazu Zeit. Die Vorortelinie wurde – baukulturelles Erbe hin, Otto Wagner her – in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts völlig vernachlässigt, und als Mitte der 1980er Jahre die Idee aufkam, die Vorortebahn zu revitalisieren, griffen sich die Eisenbahnerkollegen, so Deim, auf den Kopf: «Was wollen die mit dieser Geisterbahn? Die Gleise waren völlig verwildert, und die Bahnhöfe haben ausgesehen, als hätten dort eben erst Bomben eingeschlagen!» Auch das, was er geschichtlich in Bezug auf die Bahnstrecke wusste, war keine Werbung für die Bahn: Die Vorortelinie ist insofern ein Wiener Spezifikum, als ihre Idee auf das Revolutionsjahr 1848 zurückgeht. Und diese Idee war gar nicht so edel: «Die erste Bahnstrecke wurde nicht für, sondern gegen das Volk gebaut. Gegen Revolution! Das Kaiserhaus wollte sich für neuerliche Aufstände besser rüsten. Schneller als zuvor sollten hier Truppen und Kanonen transportiert werden», erläutert der pensionierte Eisenbahner. In der Praxis blieb der Vorortelinie dieser konterrevolutionäre Missbrauch erspart, aber auch des zivilen Gebrauchs konnte sie sich nicht lange erfreuen. Nach Ende des Ersten Weltkrieges musste der Betrieb wegen Kohlemangel eingestellt werden. In den 1920er-Jahren wurden die Wiental-, Donaukanal- und Gürtellinie der Stadtbahn von der Stadt Wien übernommen, nicht jedoch die Vorortelinie. Sie blieb in ÖBB-Hand. Für die auf der Vorortelinie eingesetzten EisenbahnerInnen ist diese Bahnstrecke wie eine Insel im ÖBB-Ozean. Franz Deim verwendete im Interview Ausdrücke, die von einem gewissen Stolz künden, einen ganz besonderen Arbeitsplatz zu haben «Wir sind von der Vororte. » Oder: «Dort bist du mit jedem zweiten Schotterstein per du.» Oder: «Wir sind von der Berg-Tramway.» Die S 45 ist eine der wenigen «Nebenbahnen», deren Benutzung im vergangenen Jahrzehnt attraktiver wurde. Im Dezember 2007 wurde hier der 15-Minuten-Takt zur Hauptverkehrszeit auf 10 Minuten verdichtet, seit Dezember 2012 gilt das 10-Minuten-Intervall Montag bis Freitag auch tagsüber.
PendlerInnen, Eisenbahnfreunde, kritische StadtplanerInnen und Schiene-statt-Straße-AktivistInnen sind überzeugt, dass der gegenwärtige Zustand suboptimal ist. Wenn sie auf einen Wiener Verkehrsnetz-Plan blicken (und das tun sie oft, denn die große Reform des Verkehrssystems ist ihr Hobby), ist ihnen zum Weinen und zum Hoffen zugleich zumute. Es ist eine Karte der verpatzten Chancen und zugleich eine Hymne an die Schiene. Das Schienennetz ist, trotz aller Vernachlässigung durch die Politik und dank der Genialität von Ingenieuren und Planern der Bahnpionierzeit immer noch so ausgebaut, dass sich mit der Verlängerung der S 45 zur Reichsbrücke, dann weiter über den Praterkai zum Südbahnhof oder über Kaiserebersdorf - Oberlaa - Meidling - Speising nach Hütteldorf die Möglichkeit eines Schnellbahnrings ergäbe. Die Vision von der durchgehenden Ringbahn um die Stadt ist keineswegs neu. Vorbild für das Konzept könnte die Berliner Ringbahn sein. Erst seit einigen Jahren führt wieder ein kompletter S-Bahn-Ring um die Stadt, welcher täglich von mehr als 400.000 Fahrgästen benutzt wird. Natürlich sind die Größenverhältnisse zwischen Wien und Berlin unterschiedlich, die Grundidee, bereits am Stadtrand Umsteigeknoten zu errichten, würde aber auch bei uns erfolgreich sein. Thomas Stadlers Verkehrsblog http://wiener-sbahn.at ist in dieser Hinsicht sehr aufschlussreich.
Trotz der Akzeptanz der S 45 und der Fahrgastfrequenz, die man in der ÖBB gar nicht erwartete, als der Betrieb aufgenommen wurde, trifft man in Wien auf viele Vorortelinie-Muffel, die von dieser Sorte Öffis keine Ahnung haben und sich daher wundern, über welche Eisenbahnbrücken sie fahren, wenn sie westwärts stadtauswärts unterwegs sind. Als Ausgangspunkt und/oder Endpunkt der S 45-Kennenlern-Aktivitäten ist die Haltestelle Gersthof empfehlenswert. Nicht nur, weil man einen frühen Otto Wagner studieren kann, sondern auch wegen zwei liebenswürdigen Cafés. Das eine, das Café Mocca, sperrt schon um sieben auf; es befindet sich direkt im Stationsgebäude. Die Publikumsmischung aus Studierenden, KünstlerInnen und alten Haudegen, das tschechische Velkopopovicky Kozel vom Fass und der große schattige Gastgarten an der Bahndammmauer sind Süchtigmacher. Sein Interieur besteht aus Originalteilen des ehemaligen Café Haag in der Innenstadt. Sogar eine eigene Zeitung hat das Café, die zwölfseitige «Unbotmäßige Mocca-Zeitung». Das andere Lokal liegt auf der gegenüberliegenden Seite der Gersthoferstraße. Es ist das legendäre Café Stadtbahn (ab 17 Uhr, sonntags geschlossen) mit seinen Plakaten aus den 70er Jahren, mit seinen Rauchschwaden, die die Sicht auf den Grind erschweren, und mit seiner im übrigen Währing ausgestorbenen Musik: Tom Waits, Led Zeppelin, Leonard Cohen …
Robert Sommer
INFO-BOX
Otto Wagner: http://de.wikipedia.org/wiki/Otto_Wagner
Elfriede Jelinek: http://www.elfriedejelinek.com/
Thomas Stadlers Verkehrsblog: http://wiener-sbahn.at
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