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10. Bezirk, Favoriten

Welche Assoziationen haben Sie mit Favoriten? Böhmischer Prater, Spinnerin am Kreuz, Kurbad Oberlaa, Amalienbad, Viktor-Adler-Markt oder Tichy Eis am Reumannplatz? Oder denken Sie eher an die großen Wohnhausanlagen wie Peer Albin Hanson Siedlung, Wienerberg City oder Monte Laa?
Favoriten, der erste Bezirk außerhalb des Gürtels, ist ein geschichtlich junger Bezirk und entwickelte sich erst nach der Errichtung des Arsenals (1849) zu einem stark verbauten Gebiet. Im 19. Jahrhundert wurden hier große Ziegelwerke errichtet und v.a. tschechische Arbeiter beschäftigt. Auch die Ziegel der Ringstraßen-Prunkbauten stammen aus Favoriten. Den Namen hat der Bezirk aber vom kaiserlichen Lustschloss Favorita bekommen, dem heutigen Theresianum in der Favoritenstraße im 4. Bezirk.
Seit 2000 sind in Favoriten riesige neue Stadtteile mit tausenden neuen Wohnungen entstanden, die Wienerberg City oder Monte Laa. Und das „Jahrhundertprojekt“ Hauptbahnhof, das über einen Verkehrsknoten hinaus einen ganzen neuen Stadtteil entstehen lässt, wird Favoriten auch die nächsten Jahre noch massiv prägen!

Zur Geschichte im Detail:
Durch einen Gemeinderatsbeschluss im Jahr 1873 konnten 1874 die Grenzen des neu geschaffenen 10. Wiener Gemeindebezirks festgelegt werden, von dem Teile vorher zum 4. Bezirk gehörten. Die außerhalb des Gürtels gelegenen Teile des 3. und 5. Bezirks wurden genauso Teil des neuen 10. Bezirks "Favoriten" wie Teile von Ober- und Unterlaa und Inzersdorf. 1954 folgten auch die restlichen Teile von Ober- und Unterlaa sowie Rothneusiedl. Von der erstmaligen urkundlichen Erwähnung (1171) bis Mitte des 19. Jahrhunderts existierten "An der Hauptstraße nahe dem Wienerberg" jedoch nur verstreute Bauernhäuser und Weingärten. Anfang des 19. Jahrhunderts gab es daneben nur den "Roten Hof" (ein altes Jagdschloss) und das "Alte Landgut" (ursprünglich eine Ziegelei). Letzteres wurde im Jahr 1834 zu einem Casino umgebaut, 17 Jahre später wurde der Garten in einen Acker und das Gebäude in eine Fabrik verwandelt. Seit 1850 wuchsen die Wohnkasernen für die ankommenden Arbeitermassen – so entstand die "Siedlung vor der Favoritner Linie", woraus sich kurzerhand der Name "Favoriten" einbürgerte.

Denkmäler der Arbeiterkultur
Zinskasernen und Fabriken prägen das Bild bis heute, entstanden sind diese zwischen 1875 und 1918 – Favoriten wurde zu einem typischen Arbeiter- und Industriebezirk mit hohem Zuwanderer-Anteil (Tschechen und Kroaten). Das Arsenalgelände vor der Belvedere-Linie beherbergt heute viele öffentliche Institutionen, z.B. das Heeresgeschichtliche Museum, der anschließende Schweizer Garten das 21er Haus, ein Museum für zeitgenössische Kunst, das 2011 nach Um- und Ausbau als Dependance der Österreichischen Galerie Belvedere wiedereröffnet wurde.

Der Südbahnhof wurde in den Jahren 1869-1873 errichtet, im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt, von 1951-1960 neu erbaut. 2009 wurde er abgerissen, um Platz zu machen für den neuen Hauptbahnhof, der 2012 eröffnet wurde. Im Zuge dieses städtebaulichen Großprojekts wird zusätzlich zum Verkehrsknoten in den nächsten Jahren noch ein ganzes Stadtviertel neu entstehen.

Der markante Kuppelbau der Antonskirche bildet den geographischen Bezirks-Mittelpunkt an der Favoritenstraße, er wurde 1896-1901 erbaut und nach dem Krieg 1945 wieder hergestellt. Das Favoritner Arbeiterheim in der Laxenburger Straße (erbaut 1902) ist ein Denkmal der Arbeiterkultur. Das Amalienbad am Reumannplatz war nach seiner Fertigstellung 1926 das modernste Hallenbad der Welt. Das Herz des Bezirks bildet die heutige Fußgängerzone Favoritenstraße, die durch die U-Bahn verkehrsmäßig erschlossen ist.

Der "Böhmische Prater" auf dem bis dahin gänzlich unverbauten Laaerberg wurde 1885 als Erholungs und Vergnügungsareal für die Ziegelarbeiter der Wienerberger Ziegelfabrik eingerichtet. Die Per-Albin-Hansson-Siedlung wurde 1951 übergeben, 1959 das Laaerbergbad eröffnet und im Jahr 1965 die schon lange bekannte Schwefelquelle in Form eines Kurzentrums der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Auf der Kuppe des Wienerberges in Favoriten steht der Wasserturm, als eines der markantesten Bauwerke im Stil des industriellen Historismus. Er wurde in den Jahren 1898 – 1899 errichtet und versorgte die hoch gelegenen Gebiete des 10. und 12. Bezirkes mit Trinkwasser. Diese Aufgabe übernahm wenige Jahre später die II. Wiener Hochquellwasserleitung, die 1910 in Betrieb genommen wurde. Ab dieser Zeit war der Turm nur fallweise in Betrieb, etwa wenn die II. Hochquellenwasserleitung für Instandhaltungsarbeiten trockengelegt werden musste.

Aus „Lö“ wurde „Oberlaa
Die ehemaligen Straßendörfer Ober- und Unterlaa wurden Ende des 12. Jahrhunderts urkundlich erstmals als "Lö" erwähnt. Die Pfarrkirche "Zum Hl. Aegyd" wurde 1744-1746 von Matthias Gerl in Oberlaa erbaut, die Johanneskapelle enthält erste Spuren des Christentums in Wien aus spätrömischer Zeit.
Rothneusiedl, erstmals 1301 urkundlich erwähnt, an der unteren Liesing gelegenes Fabriks- und Wohnviertel, war bis 1938 ein selbstständiger Ort, gehörte bis 1954 zum 23. Bezirk und ist seither ein Teil Favoritens.
 
Der Galgen am Wienerberg
Die Triester Straße, nach wie vor die große Ausfallstraße nach Süden, führt auf die Höhe des Wienerbergs. Dort steht die sagenumwobene "Spinnerin am Kreuz", eine spätgotische Votivsäule, die 1375 erbaut, später zerstört und 1451-1452 vom Dombaumeister Hans Puchsbaum wieder errichtet wurde. Ihren heutigen Namen hat sie erst seit Anfang des 19. Jahrhunderts. Die Säule markierte die äußerste Grenze der Wiener Stadtgerichtsbarkeit. In unmittelbarer Nähe befand sich das Hochgericht und die größte Hinrichtungsstätte Wiens – „der Galgen am Wienerberg“, wo bis ins 19. Jahrhundert öffentliche Hinrichtungen durch den Galgen oder das Rad erfolgten.

Unvorstellbar arm – die „Ziegelbehm“ am Wienerberg
Der Großteil von Inzersdorf (1120 erstmals erwähnt) gehört heute zum 23. Bezirk. Im frühen 19. Jahrhundert sorgte Heinrich Drasche durch die Ansiedlung der Ziegelindustrie für gewaltigen Aufschwung. Die Verlegung der Ziegelöfen aus dem innerstädtischen Bereich auf den Wienerberg (per kaiserlichem Erlass) sicherte Drasche praktisch ein Monopol, das angesichts des Baubooms jener Zeit äußerst einträglich war. Anders erging es den zumeist böhmischen Ziegeleiarbeitern – diese mussten unter unvorstellbar ärmlichen Bedingungen arbeiten. Auf diese Ausbeutung und das daraus resultierende Elend machte 1888 der junge Arzt Dr. Viktor Adler aufmerksam.
Die Ziegelwerke bestanden bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts und waren noch in der Wiederaufbauphase nach dem Zweiten Weltkrieg voll im Betrieb. Erst als die Rohstoffvorkommen weitgehend erschöpft waren und der Abbau zunehmend unwirtschaftlich wurde, begann man in den sechziger Jahren, die Lehmgruben nach und nach zu schließen.
 

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Essay

Der Reumannplatz

Der Raum, der uns anblinzelt

«Der Flaneur schlendert ziellos dahin und überdeckt das Nichts, das er um sich und in sich spürt, durch eine Unzahl von Eindrücken» (Siegfried Kracauer). Und wenn der Flaneur oder die Flaneurin sich auf eine Bank setzt und stundenlang nur seine/ihre Blicke herumschlendern lässt, um das Nichts um und in sich et cetera, et cetera... Bleibt er Flaneur? Bleibt sie Flaneurin? Hier der Versuch einer Antwort, warum man am Reumannplatz in Favoriten auch sitzend flanieren kann. Erstens gibt es in keinem Grätzl Wiens eine mit dem Reumannplatz vergleichbare Sitzbankdichte. Nicht nur die Zahl der Bänke beeindruckt, auch ihre Bequemlichkeit. In der Kärntnerstraße oder im Resselpark könnte man gar nicht sitzend flanieren. Hier scheint das Stadtmobiliar in erster Linie die Funktion zu haben, die Menschen in die Schanigärten der Kommerzgastronomie zu treiben. Weil mit Flanierenden und Beobachtenden das Bruttoinlandsprodukt nicht zu steigern ist. Weil Wachstum, Wachstum, Wachstum angesagt ist.

Aus welchen weiteren Gründen ist der Reumannplatz flaneriefreundlich? Er hat die Menge, die ein wichtiger Bestandteil des Flanierens bleibt. Das beobachtete Volk kann in eine «Vielzahl von Eindrücken» auseinanderdividiert werden. An lauen Spätnachmittagen oder Abenden wurlt es am Reumannplatz. Zum Wurln braucht es hier keine TouristInnen. Es ist ein sich selbst elektrisierendes Gemenge, das nicht wegen seiner babylonischen Sprachenvielfalt kein gemeinsames Wir-Gefühl entwickelt hat, sondern weil jeder Mensch vor dem Eis-Gott Tichy zweimal in ein Konkurrenzverhältnis tappt: zuerst zu den notorischen Ellenbogenbesitzern in der Warteschlange vor der Eisverkaufstheke, sodann zu den Mitbewerbern um freie Sitzgelegenheiten.

Franz Hessel definiert das Flanieren als eine Art «Lektüre der Stadt»: Die Stadt wird zum Text, der verschiedene Lesarten zulässt. Die Stadt ist für den Flaneur, die Flaneurin wie ein gut zu lesendes Buch und die Architektur wie dessen Buchstaben, die durch das Verhalten der Menschen lesbar gemacht und gerade durch diese einen lebhaften Charakter bekommen. Man kann solche urbanen Zeitgenossen auch durch das, was sie n i c h t sind, bestimmen. Edgar Allan Poe hat in seinem Werk «Der Mann der Menge» (The Man of the Crowd) den Typus des Anti-Flaneurs verewigt: «… er hielt in seinem Lauf nicht inne, sondern lenkte mit wahnsinniger Hartnäckigkeit seine Schritte wieder dem Herzen des mächtigen London zu. Rastlos und eilig floh er dahin (…) Er ging wie immer hin und zurück und verließ während des ganzen Tages nicht das Getümmel jener Straße. Und als die Schatten des zweiten Abends niedersanken, ward ich todmüde und stellte mich dem Wanderer kühn in den Weg und blickte ihm fest ins Antlitz. Er bemerkte mich nicht. Er nahm seinen traurigen Gang wieder auf, indes ich, von der Verfolgung abstehend, in Gedanken versunken zurückblieb. «Dieser alte Mann», sagte ich schließlich, «ist das Urbild und der Dämon des Triebes zum Verbrechen. Er kann nicht allein sein. Er ist der Mann der Menge».

Dem «Mann der Menge» im Sinn von Poe fehlt die Gelassenheit, das Laissez Faire, die «Schetzko jedno»-Haltung, wie man es im 10. Wiener Gemeindebezirk gelegentlich noch hört, um wirklich ein Flaneur zu sein. Walter Benjamin steuert noch ein Kennzeichen der Flanierenden bei: das Berauschtsein. An einer Stelle seines Passagenwerks schreibt er: Die Figur des Flaneurs. Er gleicht dem Haschischesser, nimmt den Raum in sich auf wie dieser. Im Haschischrausch beginnt der Raum uns anzublinzeln: «Nun, was mag denn in mir sich alles zugetragen haben?» Und mit der gleichen Frage macht der Raum an den Flanierenden sich heran.

Ich sitze also am Reumannplatz, lasse meine Augen ziellos herumschweifen, warte, bis der Raum selbst mich anblinzelt und etwas von mir wissen zu wollen scheint, fühle mich in eine Stadt am Balkan versetzt, erinnere mich aber gleich, dass die belebten Plätze der südosteuropäischen Städte sehr monokulturell im Vergleich zum Reumannplatz wirken. Mein klammheimlicher Applaus gilt den Gegensätzen, die den babylonischen Charakter des Platzes verstärken. Die Fittesten haben hier ihre Treffpunkte und die Unfittesten. Zu ersteren zählen die jungen Menschen mit türkischem oder ex-jugoslawischen «Hintergrund». Sie sammeln sich vor Mc Donalds oder bei der U 1-Station, im Begriffe, kollektiv ihre Partylaune zum Schwedenplatz oder zum Wiener Prater zu tragen. Sie sind die unbekümmerten Subjekte des Hineinschwappens der Vorstadt in die großbürgerliche City, begünstigt durch den Abbau sozialer Schwellen, für den die U1-Verbindung sorgte. Die anderen, die Unfittesten, belagern die beiden Würstelbuden mit geringem Interesse an Burenwurst und Käsekrainer. Ihr Ziel ist vielmehr die Bierdose, man weiß nie im vornhinein, wie sie sich vermehrt, denn es kann ja einer der Kumpel im Wettcafé nebenan gerade einen überraschenden Gewinn gemacht haben. Und wenn das so ist, weiß man im Vorhinein nie, wie spendierfreudig er heute ist. Wird er zwei Runden bezahlen? Oder sogar fünf? Wie um das Sprichwort «Nur in einem gesunden Körper weht ein gesunder Geist» zu widerlegen, spielen zwei Langzeitarbeitslose am Würstelstand Schach. Weil Schach nicht ausstirbt, ist auch in diesem Kreis der Subalternen jederzeit ein «Dritter» zur Stelle, der Ezzes austeilt.

Ihre Körper und die ihrer Kumpanen sind vom Alkohol, vom abgelagerten Staub der längst verjährten Maloche oder vom Straßenleben so ramponiert, dass man sich wundert, was sie stundenlang rund um den Kiosk aufrecht hält. Der Schmäh hält sie aufrecht, und der ist oft zum Weghören idiotisch, fast immer dann, wenn Frauen in der Burka vorbeieilen. «De Buaka is supa fia de schiachn Weiwa» zählt da noch zu den «toleranten» Kommentaren der «echten Favoritner». Die Chance, eine wandelnde Burka zu treffen, ist am Reumannplatz gefühlte fünfzigmal höher, als einem österreichischen Dirndlkleid zu begegnen.

Ich kenne in Wien keinen öffentlichen Raum, der atmender, greifbarer, reger, beseelter und unruhiger als der Reumannplatz bzw. der Fußgängerzone zwischen Kepler- und Reumannplatz wäre. Man muss vielleicht in die Vergangenheit zurückgehen, um vergleichbare urbane Vitalität zu finden. Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts bis in die 1930er Jahre zählte die Straßenecke Kärntnerring/ Kärntnerstraße zu den am meisten frequentierten Plätzen Wiens. Nach dem Inhaber eines Lederwarengeschäfts wurde dieser Kreuzungsbereich «Sirk-Ecke» genannt. In Karl Kraus´ Hauptwerk «Die letzten Tage der Menschheit» beginnen alle Akte mit Szenen vom Ringstraßenkorso an der Sirk-Ecke: Menschen unterschiedlicher Herkunft und vor allem Offiziere begegnen hier regelmäßig einander und kommentieren die neuesten Nachrichten aus dem Krieg. Spätestens mit dem autogerechten Umbau der Opernkreuzung 1955 ist der Korso verschwunden.

An der Sirk-Ecke traf die proletarische Vorstadt auf die großbürgerliche Innenstadt. Am Reumannplatz dagegen können die Vorstadt und ihre BewohnerInnen heute auf die Begegnung mit den stadtauswärts gekarrten InnenstädterInnen verzichten, weil sie ohnehin alle gemeinsam Mitglieder der Mittelschicht sind, wie sie es sich zurechtlügen. Und weil die Innenstadtschickeria sich ohnehin nie bis zum südlichen Ende der Fuzo Favoritenstraße vor traut. Umgekehrt funktioniert der Austausch nämlich nicht. Die vorlauten Enkel der Gastarbeiter eignen sich die innenstädtische Partyzone an, die sie mit der U-Bahn in zehn Minuten erreichen, während es umgekehrt viele Schnösel gibt, die noch nie am Reumannplatz waren, geschweige denn einen Platz weiter, am schattigen und kurioserweise schwach frequentierten Antonsplatz mit der monumentalen Antonskirche, die in ihrem historisierend byzantinischen Baustil eine Überraschung für alle ist, die das Gebäude zum ersten Mal sehen.

Wer noch nie am Reumannplatz war, kennt auch das Baujuwel des Platzes nicht, das Favoritner Amalienbad. Wenig wahrscheinlich ist, dass diese Ignoranz politische Hintergründe hat. Denn die Wertschätzung gegenüber dem «Roten Wien» der Zwischenkriegszeit, dem auch das 1926 fertig gestellte Amalienbad zuzurechnen ist, ist heute lagerübergreifend. Damals war das Gegenteil der Fall. Zitat aus www.dasrotewien.at: «Von konservativen Kreisen wurde das Amalienbad geradezu als Symbol der angefeindeten sozialdemokratischen Kommunalpolitik kritisiert. So schrieb die Reichspost, das Zentralorgan der Christlichsozialen Partei, am 17. September 1933: Die Gemeindeverwaltung trieb einen Luxusaufwand, der mit ihrem Vernichtungskrieg gegen allen Luxus in schreiendstem Widerspruch stand [...] Auch Proletarier brauchen Bäder. Also baute man ihnen einen kostspieligen Badepalast, in dem sie sich gar nicht heimisch fühlen (…) 
Heute ist das Amalienbad wieder eine der schönsten Badeanstalten Europas. Besonders eindrucksvoll sind die eleganten Innenräume, etwa die Saunabereiche (Frauen und Männer saunieren bis auf wenige Ausnahmetage getrennt), einzigartig das runde Warmwasserbecken im Art-déco-Stil mit Mosaik auf dem Beckenboden, breiten Stufen und umgebenden Säulen.»

Willi Resetarits erinnerte sich in einer Talk-Sendung über seine Kindheit im 10. Bezirk: «Gacken am Gang, Ganzkörperwäsche im Amalienbad.» Das ist auch heute wieder die Devise von Armutsfamilien. Nur kommen diese nicht mehr aus dem südlichen Burgenland, wie die Resetarits-Geschwister, sondern aus dem ehemaligen Jugoslawien und aus Rumänien. Ihre Wohnverhältnisse sind im Schnitt schlechter als die der Mehrheitsbevölkerung. Für die Armen ist das Hallenbad sowohl der Badewannen- als auch der Mittelmeerurlaubsersatz. Entsprechend zusammengesetzt ist die BesucherInnenliste im Amalienbad. Als im Jahre 2011 das Online-Medium Wien-konkret das Publikum der städtischen Bäder in «ausländische, österreichische und nicht-österreichische Gäste» einteilte und das Mengenverhältnis von Aus- und Inländern zum Kriterium der «Angenehmheit» der Badbenützung erklärte, brach ein demokratisches Entrüstungsstürmchen aus. Die Einteilung in in- und ausländische, österreichische und nicht-österreichische Gäste wurde dabei als diskriminierend und ausgrenzend bezeichnet. Die Information, das Amalienbad werde «auch von Österreichern» benutzt, rufe genauso Klischees wach wie die Nachricht, das Publikum im Hietzingerbad und im Höpflerbad sei dagegen «sehr angenehm». Die Kehrseite dieses Urteils lautet, dass die Badenden in den anderen Anstalten nicht angenehm sind. Die Betreiber dieser «Bäderinformation« wollten die Frage nicht beantworten, welche Methode sie bei ihren Ermittlungen anwandten. Wurden beim Eintritt ins Bad Personalausweise, Staatsbürgerschaftsnachweise und Reisepässe kontrolliert?

Der Flaneur / die Flaneurin nimmt solche Nachrichten auf, weil er sie in Beziehung setzen kann zu Beobachtungen, die er während seiner ziellosen Spaziergänge anstellt. Wenn ein typischer Flaneur auf einer Bank am Reumannplatz sitzt, und wenn er zwei Frauen auf der Nebenbank eine für ihn wohlklingende, aber nirgends zuordenbare Sprache sprechen hört, wird er die Frauen fragen: Was ist das für eine schöne Sprache? Und eine der Frauen antwortet: «Wir sprechen aramäisch. Es gibt etwa 400 aramäische Familien in Wien, glaube ich.» Und der Flaneur wird fragen: Ist das nicht die Sprache von … Und die Frau wird ihn unterbrechen, als ob sie die Frage, schon hundertmal gehört, auch aus dem Munde des Flaneurs schon kommen sieht: «Ja, es ist die Sprache von IHM!». Und der Flaneur – so geht er bei der Lektüre der Stadt vor – wird diese aufgeweckte Frau, die eine selten gewordene Sprache spricht, nämlich die Sprache von Jesus, gedanklich in das Amalienbad hinein versetzen. Der typische Flaneur wird – gelassen, wie er ist – keinen Farbbeutel in das Büro der «Bäderinformation« schmeißen. Vielleicht ist das eine seiner Schwächen.

Robert Sommer


INFO-BOX

Amalienbad:
http://de.wikipedia.org/wiki/Amalienbad

www.wien.gv.at/freizeit/baeder/uebersicht/hallenbaeder/amalienbad.html

Eissalon Tichy:
http://www.gastroweb.at/tichy-eis/

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FlanerieTipps

Bahnorama

In Zeiten städtebaulicher Großprojekte ist das „Jahrhundertprojekt“ Hauptbahnhof Wien eines davon. Der neue Durchgangsbahnhof wurde im Dezember 2012 eröffnet, über den Verkehrsknoten hinausgehend wird hier aber in den nächsten Jahren ein ganzer neuer Stadtteil entstehen, der den Bezirk wesentlich prägt. Vielleicht möchten Sie sich informieren über das städtebauliche Großprojekt? Oder einen Blick auf die Baustelle werfen? Das „Bahnorama Hauptbahnhof“ bietet eine Ausstellung sowie einen begehbaren Holzturm mit Aussichtsplattform, die einen fantastischen Blick über die Dächer von Wien ermöglicht. http://www.hauptbahnhof-wien.at/de/bahnorama/

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Früher wurde hier Brot gebacken, heute ist die Ankerbrotfabrik in Favoriten zu einem Zentrum zeitgenössischer Kunst geworden. Anfang des 20. Jahrhunderts erbaut, haben sich 2009 in diesem sanierten und wiederbelebten Industriebau Kunstinstitutionen, Galerien Ateliers und Schauräume angesiedelt, bspw. Dependancen der Galerie Hilger oder Ostlicht, um zwei bekannte Einrichtungen zu nennen. Für Kunstinteressierte ist die Absberggasse 27 eine interessante Adresse! http://www.loftcity.at/

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Das Amalienbad am Reumannplatz zählt zu den architektonisch außergewöhnlichsten Bädern Europas. Erbaut 1923-26 nach Plänen der Architekten Karl Schmalhofer und Otto Nadel, zählte es bei seiner Eröffnung zu den modernsten und größten Badehallen der Welt. In einer Zeit, in der ein Großteil der Wiener wassermäßig nur über die Bassena versorgt war, förderte die Stadt den Ausbau von Volksbädern. Die Stadtverwaltung des Roten Wien wollte die Hygienestandards heben, durch prachtvolle Ausstattung aber auch „ein bisschen Luxus“ für das Proletariat bieten. Es entsprach der Vorstellung dieser Zeit, „den neuen Menschen“ zu schaffen und den Aufstiegs der Arbeiterschaft zu einer neuen Kultur zu forcieren.
www.wien.gv.at/freizeit/baeder/uebersicht/hallenbaeder/amalienbad.html

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Der Viktor-Adler-Markt zählt zu den schönsten Märkten Wiens. Im Zentrum der Fußgängerzone Favoritenstraße gelegen, ist er ein multikultureller Tummelplatz und ein vitaler Markt mit unverwechselbarem Ambiente. 1877 gegründet und 1910 erweitert bietet er bis heute ein vielfältiges und enormes Sortiment an – Früchte, Gemüse, Fleisch, Fisch, Backwaren, Feinkost, Blumen, Textilwaren u.v.m. An Samstagen lädt einer der größten Bauernmärkte zum Einkaufsbummel ein, und qualitätsvolle Gastronomie- und Imbisslokale bieten Meerefrüchte oder österreichische, türkische, griechische und indische Spezialitäten.
http://www.einkaufsstrassen.at/einkaufsgebiete/10-favoriten/viktor-adler-markt/

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Hörbuch

Favoriten – Ein Bezirk mit eigenem Charme

Favoriten ist der bevölkerungsreichste Wiener Gemeindebezirk. Einwohnermäßig würde der 10. Bezirk - wäre er eine eigene Stadt - gleich nach Wien, Graz und Linz kommen, an vierter Stelle der österreichischen Städte also. Den Namen hat Favoriten nicht etwa von einem seiner Dörfer, wie in anderen Bezirken üblich, sondern vom ehemaligen kaiserlichen Lustschloss "Favorita", dem heutigen Theresianum in Wieden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich Favoriten zum Arbeiter- und Industriebezirk. Viele tschechische Zuwanderer siedelten sich hier an, um etwa in den zahlreichen Ziegelfabriken Arbeit zu finden. Dort wurde das Baumaterial für die Ringstraßen-Gebäude produziert. Die durch den Lehmabbau entstandenen Gruben dienten später als Badeteiche, was vor allem die Favoritner Jugend der 30er, 40er und 50er Jahre zu schätzen wusste.

Der 10. "Hieb" liegt zwar jenseits der Touristenpfade und kaum ein Wien-Besucher würde sich hier her verirren, sieht man sich den Bezirk aber genauer an, stößt man auf Schätze die sowohl durch ihren Charme als auch die Geschichte dahinter faszinieren. Da gibt es zum Beispiel den "Böhmischen Prater", vom Proletariat als bescheidene Vergnügungsstätte gegründet, ist er noch immer ein Ausflugsort, der durch nostalgisch-liebenswerten Flair besticht oder die sagenumwobene "Spinnerin am Kreuz", eine gotische Steinsäule, neben der sich einst das Hochgericht befand, der "Galgen vom Wienerberg". Das Amalienbad mit seiner eleganten Innenausstattung im Art-Deco-Stil, der Wasserturm, der vom Wienerberg aus den Bezirk überstrahlt und der Laaerberg, Drehort von aufwendigen Stummfilmen wie "Sodom und Gomorrha" aus den 20er Jahren, die Hollywoods Monumentalschinken um nichts nach standen. Und die "Kreta", das Arbeiterviertel um die Ankerbrotfabrik, die schon wilde Zeiten hinter sich hat. Der Kabarettist und Musiker Gerhard Bronner ist hier übrigens aufgewachsen.

Von all diesen Dingen ist auf der CD die Rede, wiederbelebt durch die Erinnerungen der Bewohner, angereichert mit Historie und viel Musik. Und natürlich - nicht zu vergessen - vom Baron Karl, dem "Bezirksheiligen" sozusagen, der zwar schon im Jahre 1948 das Zeitliche segnete, aber immer noch nicht gestorben ist.

Barbara Wolflingseder
Redakteurin des Hörbuchs Favoriten


Mit Interviews von

Ing. Gerhard Blöschl, Henriette und Wolfgang Geissler, Johann Gilly, Peter Henisch, Klara Höbart, Herbert Lederer, Charlotte Müller-Neumayer, Karl Novak, Fritz Nussböck, Mag. Karl Pufler, Helmut Schmitzberger, Prof. Peter Singer, Ceija Stojka, Walter Sturm, Berta Wenzel

 


Tracklist

1. Favoriten
2. Favoritner Wahrzeichen
3. Traumfabrik Laaerberg
4. arbeiter- und Industriebezirk
5. Favoritner Bewohner
6. Die Peripherie
7. Vergessene Geschichte
8. Kultur im Zehnten

Gesamtspielzeit 79:53


Musikbeiträge von:

Blasmusik Bohemia, Damenkapelle Wiener Hofburg (Strauß Sohn), Esma Redzepova & The Teodosievski Ensemble, Alfred Gradinger, Die 3 Grinzinger, Ibro Lolov & His Gipsy Orchestra, Die 3 Kolibris, Malat Schrammeln & Emmy Denk, Malat Schrammeln & Walter Heider, Ingrid Merschl & Helmut Schmitzberger, Neues Favoritner Mandolinen Orchester, Fritz Nussböck, Die Wienerwald Schrammeln, Die Belay Schrammeln, Duo Schmitzberger, Ceija Stojka, Tonkünstlerensemble
 

Flanerien konkret

Derzeit gibt es keine aktuellen Termine für Stadtführungen im 10. Bezirk. Infos zu aktuellen StadFLANERIEN des Aktionsradius Wien unter office@aktionsradius.at.