StadtFLANERIEN Wien

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Projektbeschreibung

Das Projekt StadtFlanerien Wien

Der Aktionsradius Wien lädt Sie mit dem Projekt StadtFlanerien zu sinnesreichen Entdeckungsreisen durch die Wiener Bezirke. Verborgenes, Unbekanntes oder Historisches ist dabei genauso zu entdecken wie der Blick auf die modernen, innovativen Aspekte eines Bezirks.

Die StadtFlanerien gibt es in mehrfacher Form:
Akustisch als Hörbuchreihe, die Ihnen die Besonderheiten der Wiener Bezirke auf sehr persönliche Art und Weise näher bringen möchte.
Literarisch & fotografisch in Form von Essays und fotografischen Streifzügen, die Sie dazu einladen möchten, die Sinne zu schärfen und auch verborgene Details und Aspekte der Stadt zu entdecken.
Konkret als Stadtführungen, die unter Anleitung fachkundiger ExpertInnen Grätzel sowie interessante Orte und Themen unserer Stadt erforschen.

Ermöglicht durch das Wir sind Wien.Festival 2014 sind nun alle Sinnesebenen der StadtFlanerien (konkret-literarisch-fotografisch-akustisch) auf dieser Website zusammengefasst. Das Gesamtprojekt und die Hörbuchreihe im Speziellen ist als "work in progress" angelegt; für einige Bezirke werden bereits Hörbücher angeboten, für weitere Bezirke ist die Produktion erst in Planung. Und auch literarisch, fotografisch und konkret wird sich die Website laufend verändern und neue Inhalte und aktuelle Themen präsentieren.

Projektpartner

 

Der Aktionsradius Wien ist ein Kulturveranstalter am Gaußplatz 11 und versteht sich als Freiraum des Denkens, in dem die Zukunft unserer Gesellschaft und Stadt diskutiert wird. Themenveranstaltungen, StadtFLANERIEN, Kunst, Konzerte und Feste prägen das Programm. Die StadtFLANERIEN gibt es zusätzlich zur Hörbuchreihe auch in Form konkreter Stadtführungen.

 

Basis.Kultur.Wien ermöglicht den Wienerinnen und Wienern durch zahlreiche Projekte die Teilhabe am kulturellen Geschehen der Stadt. Menschen anzuregen, sich mit Kunst und Kultur auseinanderzusetzen und ihnen darüber hinaus die Möglichkeit zu geben, als AkteurInnen mitzuwirken, sind wesentliche Eckpfeiler basiskultureller Arbeit. In diesem Sinne ist Basis.Kultur.Wien auch Kooperationspartner bei der Herausgabe der Bezirkshörbücher des Aktionsradius Wien.

Das Wir sind Wien.Festival findet jährlich vom 1. bis 23. Juni statt und rückt an 23 Tagen die Wiener Bezirke sowie die Vielseitigkeit und Kreativität der Stadt Wien in den Vordergrund. Das Festival wird als großes Miteinander gesehen –interkultureller Austausch ist erwünscht, denn Vielfalt, Miteinander und Partizipation sind die Grundpfeiler, auf denen das Festival aufbaut.

Wir danken der Kulturabteilung der Stadt Wien als Hauptförderer der Kulturarbeit des Aktionsradius Wien.

 

StadtFlanerien literarisch
Essayistisches vom Burggarten bis Alterlaa

Literarische StadtFlanerien sind Essays zu speziellen Orten und Themen Wiens, die dazu einladen, partielle Phänomene, Räume, Reviere, Sphären oder «Kraftorte» der Wiener Grätzel nach Art einer literarischen Flanerie zu „lesen“.

Aktuell verfügbare Essays:


01  Burggarten & Schmetterlinghaus

Die Gänseblümchenguerilla

Sie kennen Sarah Wiener, gewiss. Entweder als Autorin («Das große Sarah Wiener Kochbuch») oder als Star-Fernsehköchin (die schönste ihrer Serien hieß «Sarah und die Küchenkinder» und war 2009 auf Arte zu sehen). Aber wissen Sie auch, dass sie als Jugendliche eine urbane Guerillera war? Eine der jüngsten Initiatorinnen in der Geschichte der Wiener Protestbewegungen seit der 68er Rebellion?

Wir lassen Frau Wiener selber zu Wort kommen. «Ich fühle mich als Auslöserin der Burggarten-Bewegung. Ich bin eines Tages vom Internat abgehauen und hab im Burggarten abgemähte Gänseblümchen aufgehoben. Zwei Polizisten fragen mich, was ich da tu. Sind Sie blind? sage ich. Sie sehen doch: Blumen aufheben. Die Polizisten verlangen meinen Ausweis. Warum, frage ich. Betreten des Rasens verboten, sagt einer der Beamten. Er fasst mich an, ich schreie um Hilfe. Die Freaks, die auf den Treppen des Palmenhauses saßen, kommen und fordern die Polizisten auf, mich – das Mädchen – loszulassen. Der Polizist dreht mir die Hände auf den Rücken. Ein richtiger Tumult entsteht. Mehr Freaks sind plötzlich da, aber auch ein Polizei-Großaufgebot. Ich werde festgenommen und bleibe die halbe Nacht eingesperrt. Am nächsten Tag steht in den Zeitungen: 16-jährige festgenommen, ohne Eltern Bescheid zu sagen. Der Polizeipräsident entschuldigt sich bei meiner Mutter. Ich werde in die TV-Sendung Ohne Maulkorb eingeladen. Ich und meine neuen Freunde nehmen uns vor: Jetzt gehen wir jedes Wochenende in den Rasen und protestieren für Rasenfreiheit im Burggarten. Jeden Samstag und Sonntag Schlägerei mit der Polizei. Es gibt Fotos, wo ich von drei Polizisten an Händen und Füßen weggeschleift werde.»

Eine Erinnerung an das Jahr 1979. Manchmal brauchen wir solche Erinnerungen, um zu erkennen, dass Zivilcourage sehr hilfreich sein kann, um die Dinge in der Stadt und im Staat zum Besseren zu wenden, zu mehr Liberalität zum Beispiel. Heute wird, wenn es warm und trocken ist, im Rasen des Burggartens gepicknickt, dass es eine Freude ist. Sich im Schatten der alten Bäume auszustrecken, ist längst kein subversiver Akt mehr. Wenn Polizisten kommen, mahnen sie höchsten die RadfahrerInnen ab, die durch die Parkanlage rasen. In den Erinnerungen anderer Menschen mögen andere Namen fallen, wenn vom auslösenden Moment der Bewegung für die Rasenfreiheit die Rede ist. Einerlei: Diese Bewegung markierte das Ende des frustrierten Rückzugs vieler nonkonformistischer junger WienerInnen nach der Enttäuschung des Arena-Abbruchs (1976). Und aus der Burgarten-Bewegung heraus entstand eine Vielzahl aktivistischer Projekte, vor allem Hausbesetzungs-Initiativen.
Die Erringung der Rasenfreiheit kann als die zweite Emanzipation des Burgartens bezeichnet werden, der ursprünglich ein Privatgarten des Kaisers war.

Die erste, große Emanzipation ereignete sich im  revolutionsschwangeren Jahr 1919. Das gärende Volk bzw. seine neuen Sprecherinnen und Sprecher nannten den Park «Garten der Republik» und machten ihn öffentlich zugänglich. Die große Terrasse des «Palmenhauses» (ab 1900 nach den Plänen des Wiener Architekten Friedrich Ohmann erbaut, der auch für die Wienfluss-Regulierung im Bereich des Stadtparks verantwortlich zeichnet), das den Burggarten gegen das Stadtzentrum hin abschließt, ist eine der repräsentativsten in Wien. Sie trägt den Schanigarten des Palmenhaus-Restaurants, das nicht gerade zu den Proletarierkneipen der Hauptstadt gezählt werden kann. TouristInnen aus Russland wundern sich trotzdem über die moderaten Preise. Links nach dem Eingang ins Restaurant befindet sich die so genannte Kunst-Vitrine – ein prüfender Lokalaugenschein verhilft leider zu der Erkenntnis, dass sie von den ein- und austretenden Gästen nicht bis kaum beachtet wird. Umso weniger, als derzeit bloß ein Stück Draht in dem Schaukasten liegt. Es ist ein Draht mit Bedeutung. Man müsste die Erklärung an der Wand lesen, um einen Draht zum Draht zu kriegen: «Flaneur» nennt der Künstler Johannes Heuer sein Objekt. Er geht seine Spazierwege ein zweites Mal, indem er sie in Draht nachbiegt. Im Fall des Objekts in der KunstVitrine entspricht der relativ gerade Streckenverlauf des Gletscherweges Morteratsch (Schweiz) mit seiner Nord-Süd-Ausrichtung räumlich der schmalen, gestreckten Form der Vitrine. Von Zeit zu Zeit wird eine Projektion an die Wand geworfen, die eine Kamerafahrt entlang des Objekts in annähernder Schrittgeschwindigkeit des damaligen Spaziergangs zeigt.

Wessen Körper a) den spontanen Bedarf hat, von tropischem Klima eingehüllt zu werden, oder wer b) keine Angst vor hunderten frei herumfliegenden Schmetterlingen hat, sollte das Schmetterlingshaus besuchen, das ein Teil des Ohmann´schen Palmenhauses ist. Es ist quasi ein kleiner Seitensprung aus dem Neoliberalismus heraus, gewinnt man doch im Schmetterlingshaus Informationen, die wenig relevant für Wirtschaftswachstum und ökonomische Effektivitätssteigerung sind – etwa, dass es 180.000 Schmetterlingsarten auf der Welt gibt und dass jedes Jahr im Schnitt 500 neue Arten entdeckt werden. Oder dass in Österreich 3.800 Nachfalterarten, aber nur 200 Tagfalterarten existieren. Ein Jammer, wenn man bedenkt, dass die Tagfalter wesentlich ästhetischer sind.

Verlässt man den Burggarten, um in Richtung Oper zu flanieren, passiert man das Goethe-Denkmal des Bildhauers Edmund von Hellmer am Parkeingang an der Ringstraße. Der Bildhauer erleichtere uns, den Dichter aller Dichter zu sehen, schrieb die «Neue Freie Presse» im Dezember 1900, kurz nach der Errichtung des Denkmals: Er tut das, «indem er das Standbild ziemlich niedrig stellt, selbstverständlich nicht so niedrig wie seinen Schindler im Stadtpark, aber doch nicht so hoch, als es sonst bei Statuen der Brauch. Er schafft uns einen bequemen Sehwinkel. Es bedarf keiner physischen Anstrengung, um das Kunstwerk zu genießen. Man braucht kein Fernrohr, um bis zur Stirne zu kommen, braucht sich nicht den Hals auszurenken, um nur bis zum Stiefel des Helden zu gelangen. Fast ohne aufzusehen, sieht man diesen Goethe. Er ist unserer Sphäre näher gerückt, er thront in unserem Gesichtsbezirk, immer noch über uns, das versteht sich, aber doch nachbarlich genug, dass der Festredner einen vollen Brustton heraufholen und mit Recht ausrufen darf: Er ist unser! […] Noch etwas Neues sieht man auf den ersten Blick an dem Denkmal, und dieses Neue führt uns zum guten Alten zurück. Man sieht nämlich etwas, was man nicht sieht: keine geschwätzigen Attribute, keine flügellahmen Allegorien, keinerlei vorlautes Beiwerk, das den Dichter zu erklären, zu erläutern, zu kommentieren, zu symbolisieren sich abmühte. Das Werk deutet sich selbst. Goethe sitzt ganz allein da droben, Goethe, der Alleinherrscher, und neben ihm kauert nicht die Hilflosigkeit des Künstlers. Für gewöhnlich beweist es ja nichts Anderes, als Unzulänglichkeit des Talentes, wenn Bildhauer ihre Statuen mit feierlichem Schnickschnack überladen. Da drängen sich allerhand Nebenfiguren herbei, um auch mitzutun, und aus irgendeinem verschollenen Himmel fallen geistlose Abstraktionen herunter und bleiben an dem Sockel kleben.»

Für die Nebenfiguren, die sich inzwischen doch an den Dichter herandrängen, kann unser Künstler nichts. Es sind die TouristInnen aus jeder Himmelsrichtung, die sich neben Goethe in Pose werfen, um im digitalen Speicher der Milliarden Urlaubsfotos zu landen, Dokumente eines Wien-Urlaubs, an den man sich bald nicht mehr erinnert, weil niemand auf die Idee kommt, die Routen der Flanerien durch Wien mit einem Stück zurechtgebogenen Draht für ewige Zeiten sichtbar zu machen.

Robert Sommer


INFO-BOX

Öffnungszeiten Burggarten:
1.4.2014 bis 31.10.2014: 6.00 bis 22.00 Uhr
1.11.2014 bis 31.3.2015: 6.30 Uhr bis 19.00 Uhr
http://www.bmlfuw.gv.at/ministerium/bundesgaerten/parkoeffnungszeiten/oeffnungszeiten_wien.html

Öffnungszeiten Palmenhaus:
Montag bis Donnerstag: 10.00 – 24.00 Uhr
Freitag, Samstag: 10.00 – 01.00 Uhr
Sonn- & Feiertag: 10.00 – 23.00 Uhr
http://www.palmenhaus.at/

Öffnungszeiten Schmetterlingshaus:
Sommer: April – Oktober
Montag - Freitag: 10:00 Uhr – 16:45 Uhr
Samstag, Sonntag & Feiertage: 10:00 Uhr – 18:15 Uhr
Winter: November – März
Montag - Sonntag (inkl. Feiertage): 10:00 Uhr – 15:45 Uhr
http://www.schmetterlinghaus.at/

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02  Stuwerviertel

Ein Stadtviertel im Umbruch

«Gentrification» oder eingedeutscht «Gentrifizierung» nennt man die Aufwertung zentrumsnaher Stadtviertel, abgeleitet von «gentry», der niederen englischen Adelsschicht. Salopp wird dieser Prozess auch «Boboisierung» genannt, abgeleitet von «Bobo», die Abkürzung von «bourgeois bohemian». «In Vierteln, in denen bisher eine ärmere Bevölkerung gelebt hat, kommt es zu einer Veränderung“, erklärt der Stadtentwicklungsexperte und TU-Dozent Rudolf Giffinger. «Die Häuser und Wohnungen werden attraktiver. Das zieht sozial höherrangige Schichten an.» So manch gentrifiziertes Viertel habe als Treffpunkt der Bohème schon Weltruhm erlangt: Soho und Tribeca in Manhattan, Prenzlauer Berg und Kreuzberg in Berlin, das Hamburger Schanzenviertel, der Stadtteil Vinohrady in Prag oder Kazimierz in Krakau. Vielleicht lässt sich in zehn Jahren auch das Stuwerviertel in  Wien-Leopoldstadt in diese Liste einreihen. Der dem Viertel benachbarte riesige Komplex der neuen Wirtschaftsuni zwischen Wiener Messe und Wurstelprater wird ein beschleunigender spezifischer Faktor für die Zerstörung des bisherigen Charakters des Stuwerviertels sein, dessen «Volk» – noch! – von MigrantInnen, Prostituierten, Strizzis und niedrigverdienenden PensionistInnen geprägt ist.

Amerikanische Stadtsoziologen haben herausgefunden, dass die Gentrifizierung eines Stadtteils fünf bis zehn Jahre dauert. Danach sind Mieten und Lebenshaltungskosten für die Avantgarde zu hoch. Die Avantgarde, das sind zumeist StudentInnen und KünstlerInnen, die den betreffenden Stadtteil entdeckten, solang die Mieten hier noch niedrig waren und weil sie die Gegend auf eine aufregende Weise als räudig empfanden. Sie sind die unfreiwilligen Pioniere der kommenden Aufwertung des Grätzls. Ist die Aufwertung «gelungen», zieht die Avantgarde weiter und erschließt das nächste Stadtviertel für die Nachzügler. Im zusammenwachsenden Berlin sei auf diese Art – fast ohne staatliches Zutun – das ganze Stadtzentrum aufgewertet und umgemodelt worden, schrieb die deutsche TAZ. Der ärmeren Bevölkerung, die hier bis zur Wende gelebt hatte, war das Leben zu teuer geworden – viele zogen in die Vororte. Gentrifizierung bedeutet also vor allem, dass einkommensschwache Menschen verdrängt werden.

Wer sind diese Menschen, die im Stuwerviertel zu den ersten Opfern dieses Prozesses gezählt werden können? Ohne Zweifel zählen die SexarbeiterInnen zu ihnen. Der Straßenstrich wurde zunächst im Stuwerviertel, dann auch im benachbarten Prater verboten, was zu folgenden Auswirkungen führen kann: Prostituierte, die nicht in einer Bar arbeiten wollen, um möglichst unabhängig zu bleiben, die aber ihre Arbeitsstelle auch nicht an die Hütteldorfer Peripherie verlegen wollen, weil sie dort ungeschützt dem Terror der Freier ausgesetzt sind, kehren ins Stuwerviertel zurück, getarnt mit Jeans und Turnschuhen. Sie werden hier spazieren gehen und sich bemühen, rechtzeitig zu unterscheiden, ob ein heranrollendes Auto ein Kunde oder ein Zivilpolizist ist. Denn schon die Anbahnung ist strafbar, und als Anbahnung wird auffälliges Anblicken eines Autofahrers genauso gewertet wie das Bitten um eine Zigarette oder jede Form von Gespräch. Das führt dazu, dass im Stuwerviertel inzwischen das Miteinandersprechen erwachsener Menschen auf der Straße verboten ist. SexarbeiterInnen häufen tausende Euro von Strafen an und müssen die dann oft im Gefängnis absitzen. Viele Männer bezahlen die Strafe sofort und ohne sich zu empören. Vermutlich aus Angst, ein blauer Brief könne daheim unangenehme Fragen aufkommen lassen. 


«Sexarbeit gehört zur Pratergegend wie die Gondeln zu Venedig», meint Tanja Boukal von der Stuwerviertel_BürgerInneninitiative «Rotlicht statt Blaulicht». «Jeder und jede, die hierher gezogen ist und hier eine billige Wohnung gemietet hat, wusste, dass die Mieten billig sind, weil man in einem Rotlichtviertel wohnt. Jetzt wird das ein innenstadtnahes Luxusviertel. Die Häuser werden luxussaniert, die Dachböden ausgebaut. Weil die Wirtschaftsuniversität hierher gebaut wurde, sollen die SexarbeiterInnen vertrieben werden. Wir sehen die Polizeischikanen gegen SexarbeiterInnen als Hilfsdienste für die Immobilienspekulanten.» Die Initiative führt sozusagen einen Zweifrontenkrieg: gegen die Stadtregierung, die die Prostitution in die Kriminalität treibt, und gegen Feministinnen, die ein Verbot der Sexarbeit fordern.

Die Wiener Straßenzeitung Augustin ließ den Rotlicht-Unternehmer Walter Gerhard Piatny zu Wort kommen, nachdem sein Lokal zum vierten Mal geschlossen worden war. Seine Meinung, die Politik der Rathausspitze habe Auswirkungen, die von dieser so nicht gewollt sein könne, klingt plausibel: «Im Stuwerviertel präsentierte sich die sprichwörtliche ‚Brodahua’ (Praterhure), bestöckelt und aufgemascherlt wie dem Image entsprechend, in den nächtlichen Straßen. Bis ein Magistratsbeamter auf die Idee kam, das Stuwerviertel sei ein Wohnviertel. Und wo Menschen wohnen, müssten sie vor Prostituierten geschützt sein. Die Bordsteinschwalben, wie man die Huren nannte, sind bestraft worden. Was war die logische Folge? In dem Maß, in dem die Polizei abkassiert hat, haben die Mädchen mehr arbeiten müssen. Sie haben also begonnen, auch tagsüber zu arbeiten. Am Tag aber haben sie sich nicht mehr so hergerichtet wie früher in der Nacht. Die Uniformierung mit hochhackigen Stiefeln, kurzen Miniröcken, Pelzmänteln usw. wurde obsolet. Die normale Straßenkluft wurde die Berufsbekleidung der Huren: Jeans, T-Shirt, Turnschuhe. Die ‚Hausfrau’ war nicht mehr zu unterscheiden von der Bordsteinschwalbe. Der Freier, der auf der Suche nach Prostituierten mit seinem Auto durch das Stuwerviertel surfte, konnte nun jede Frau ansprechen, die er traf.»

Schönes Leben im «Drecksviertel»

Themenwechsel. MigrantInnen mit Dauer-Minus am Konto verkörpern sozusagen die Stuwerviertler Leitkultur. N o c h  können sie, wie der aus Ex-Jugoslawien stammende Philosoph und bekennende Stuwerviertel-Fan Ljubomir Bratic, die Frage stellen: «Wo sonst gibt es so eine Lebensqualität wie hier?» Das ist ein völlig ungewohntes Güte-Attest für den Leopoldstädter Bezirksteil zwischen Praterstern und Mexikoplatz, der in den Mainstreammedien nur in Gemeinschaft mit Begriffen wie Dreck, Schmutz, Prostitution, Illegalität und Kriminalität genannt oder in «anspruchsvolleren» Medien mit Parallelgesellschaft, Ghetto oder Integrationsunwilligkeit assoziiert wird.

Ljubomir Bratić meint das aber ganz ernst mit dem Schönen Leben im «Drecksviertel». So nahe an der Donauinsel, gleichzeitig so nahe dem Stadtzentrum – wo gibt´s das noch? Schau mal, diese wunderschönen Alleen, wo gibt´s die noch in Wien? Im Schanigarten der türkischen Pizzeria Maradonna sitzen, das beste Kebab der Stadt genießen und dem mediterranen Treiben des Ilgplatzes folgen, der von der «Krone» zum «hässlichsten Platz Wiens» gekürt wurde, weil er einer ihr unheimlichen Öffentlichkeit Freiraum gibt – kann ein lauer Abend irgendwo schöner sein? Nach einer Studie des Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie ist das Stuwerviertel keineswegs ein besonders gefährliches Viertel der Stadt. Ljubomir Bratić: «Es scheint eher so zu sein, dass wir hier die Durchsetzung eines ganz bestimmten Ordnungsdiskurses miterleben: Darum alle die von Zeit zu Zeit herumwandernden Betonstraßensperren, darum die ununterbrochene Polizeipräsenz, wo man nur hinschaut, und darum auch die Menschenjagd durch die nächtliche Lokalszene.»

Die seltsamen Betonstraßensperren, auf die Stuwerviertel-FlaneurInnen unweigerlich stoßen, sollen motorisierte Freier vom Rundendrehen abhalten. Die Fahrer von Autos mit Gänserndorfer, Mistelbacher und Hollabrunner Kennzeichen sind übrigens zu den üblichen Feindbildern hinzu gestoßen. Tatsächlich schwirrten eine Zeitlang Überlegungen im Raum, Autos mit solcher Herkunft den Zutritt zum Stuwerviertel zu verbieten. «Tschuschen», Huren und Gänserndorfer bilden die Achse des Bösen – eine imaginäre Gefahrenkombination, die allein schon einen Besuch des Stuwerviertels interessant macht...

Robert Sommer


INFO-BOX

Lokaltipps Stuwerviertel:

lokativ, die Schnapsbar
1020, Arnezhoferstraße 12
www.lokativ.at

Café Dezentral
1020, Ilgplatz 5
Schanigarten, Livemusik, Holzofen, Freistädter Bier
01 72 80 144
www.facebook.com/dezentral

Restaurant Le Cédre
1020, Ausstellungsstraße 51
Libanesische Küche
www.restaurant-lecedre.at

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03  Das Arsenal

Zum heiligen Radetzky

Kein Ziegel-Laie kann sich vorstellen, was man mit – sagen wir – hundert Millionen Ziegeln bauen kann. Man kann nicht einmal das Wiener Arsenal bauen. Dafür waren 177 Millionen Ziegel nötig, zumindest bis zur Fertigstellung im Jahr 1856. Nach dem zweiten Weltkrieg brauchte man für die aus 31 Objekten bestehende Anlage in romantisch-pseudomaurischem Stil weitere hunderttausend. Denn ab 1944 waren viele alliierte Bomben auf das Arsenal geworfen worden, in dem Kriegsmaterial fabriziert oder repariert wurde, und die Anlage war dementsprechend ruinenhaft. Dass der frühere Zustand wieder hergestellt wurde, finden auch jene StadtgenießerInnen fein, denen angesichts militärischer Objekte nicht gerade warm ums Herz wird.  Die 500 mal 700 Meter große Anlage, von Stararchitekten wie Eduard van der Nüll oder Theophil von Hansen geplant, ist ein einzigartiger Teil des dritten Wiener Gemeindebezirks, in dem sich auf sonderbare Weise Flair und Fluch vermischen.

Verflucht ist das Arsenal, weil es im Sinne von Martin Pollack auf «kontaminierter Erde» steht: nichts erinnert an die tausenden Zwangsarbeiter, die hier für den Sieg Nazideutschlands roboten mussten. Die Anlage wird – zumindest für liberal denkende Menschen – nicht sympathischer, wenn sie erfahren, dass von ihr von Beginn an eine Gefahr für die Bevölkerung Wiens ausging. Genauso wie die Rossauer Kaserne war das Arsenal, ursprünglich ja ebenso eine Kaserne, dazu errichtet worden, die Eliten vor einer Wiederholung der 1848er Rebellion in Wien abzusichern.

Eine Ironie der Geschichte sorgte dafür, dass ein halbes Jahrhundert nach der Fertigstellung ausgerechnet das Arsenal zu einem der Ausgangspunkte einer Rebellion wurde, die schließlich in den großen Jännerstreik 1918 mündete. In den letzten Jahren des ersten Weltkrieges arbeiteten 15.000 bis 20.000 Menschen im Arsenal unter Ausschluss rechtsstaatlicher Versammlungs- und Streikfreiheiten, weil die Rüstungsindustrie militarisiert war. Dennoch streikten die Arsenal-ArbeiterInnen, denn ihre Lage war schon im zweiten Kriegsjahr katastrophal. Der Historiker Hans Hautmann beschreibt sie anschaulich: die wichtigsten Lebensmittel waren in den Läden immer weniger erhältlich, man bekam sie oft nur noch im Schleichhandel. Die Schleichhandelspreise stiegen zwischen 1914 und 1918 um mehr als das Tausendfache. In den Kriegsjahren war ein dreizehnstündiger Arbeitstag die Regel. Die klassische ProletarierInnenkrankheit, die Tuberkulose, griff sprunghaft um sich. 1917 streikten die Arsenal-ArbeiterInnen lückenlos. Der Hunger war als Motiv für die Protestaktion stärker als die Furcht, hingerichtet zu werden. Die Furcht war realistisch: Die ArbeiterInnen in den militarisierten Betrieben waren oft formalrechtlich Soldaten gleichgestellt, weil man sie nicht sanktionieren hätte können, wenn sie ZivilistInnen geblieben wären.

Heute umfasst das Arsenal unter anderem Wohngebäude, Forschungseinrichtungen – und das Heeresgeschichtliche Museum, das dem Landesverteidigungsministerium untersteht. Es ist ein großzügiges Geschenk des Staates an die Waffenfreaks dieser Welt. Es erzählt nichts über die Ursachen der Kriege, sondern es zeigt die Ästhetik des Krieges, vermittelt über die chronologisch geordnete Waffensammlung (hat schon jemand die Hakenkreuze gezählt, die hier auf Waffen und Uniformen prangen und so das Verbotsgesetz überlisten?) und die historischen Schlachtengemälde. Als Heiligster unter den Heiligen des österreichischen Militarismus tritt den MuseumsbesucherInnen Heeresoberbefehlshaber Radetzky entgegen. Der Radetzkysaal ist der Prunksaal des Museums. Radetzky verkörpert hier eindeutig das Gute. Das Bundesheer fühlt sich in seiner Tradition stehend. Zwei Informationen fehlen, mit der man vor allem das Interesse der vielen italienischen TouristInnen geweckt hätte: Erstens, dass Radetzky die Lieblingsspeise der MailänderInnem, das Schnitzel, in Wien einführte, wo es unter dem Namen Wienerschnitzel bis heute die gastronomische Bestsellerliste anführt. Diese Information ist möglicherweise ein Irrtum, aber einer von der harmlosen Sorte. Die zweite: Nicht so gut geschmeckt wie das Mailänder Schnitzel hat dem Herrn Radetzky die Mailänder Insurbordination. Mit einem Wüten gegen Aufständische und Zivilbevölkerung reagierte der Heeresoberbefehlshaber auf die «cinque giornate di Milano», die fünf Tage von Mailand, wie der 1848er-Aufstand der ArbeiterInnen und StudentInnen dieser norditalienischen, von Österreich besetzten Metropole genannt wird.

Nach den entsprechenden «fünf Tagen von Wien» wird das Heeresgeschichtliche Museum, das bleibt zu hoffen, nicht wieder zu erkennen sein. Denn Texttafeln wie jene zur Zwischenkriegszeit, die die Verantwortung des Dollfuß-Regimes zur Ausschaltung des Parlaments leugnen, sollten in ein Museum der Geschichtsmythen verlagert werden: «Das Parlament wurde Schauplatz immer heftigerer Auseinandersetzungen, die schließlich den Gedanken aufkommen ließen, die Volksvertretung in ihrer demokratisch-pluralistischen Form wieder aufzulösen.» Eleganter kann man den Austrofaschismus nicht schonen.

Robert Sommer


INFO-BOX

Heeresgeschichtliches Museum
Arsenal Objekt 1
A-1030 Wien
Öffnungszeiten: tgl. 9 - 17 Uhr
http://www.hgm.or.at/

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04  Der unterschlagene Fluss

„Richtet mancherlei Unheil an“

Heumühlgasse, Schleifmühlgasse, Station Bärenmühle – diese Namen erinnern daran, dass es auf dem Gebiet des heutigen 4. Bezirks einst tatsächlich Mühlen gegeben hat. Auswärtige wundern sich: «Und womit, bitteschön, wurden sie angetrieben? Es gibt doch hier weit und breit keinen Bach!» Von allen Ortsunkundigen spüren nur die Aale, die am Naschmarkt auf Kunden warten, das Gewässer, das in der Wieden völlig in den Untergrund gedrängt wurde – wenn man einer Anekdote des Autors und Regisseurs Kurt Palm Glauben schenken darf. Ein lebendiger Aal, aus dem Fischbecken gehoben, habe sich dem Fischverkäufer entwunden, schlängelte sich zielgerichtet dorthin, wo er den Wienfluss roch und ward nie mehr wieder gesehen.

Wolfgang Kos, der Direktor des Wienmuseums am Karlsplatz, und seine MitarbeiterInnen könnten ihre kurzen Rauchpausen am Flussufer genießen, wenn der Wienfluss Ende der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts nicht unter dem Naschmarkt und dem Karlsplatz versteckt und kanalisiert worden wäre. Als man ihm, dem Fluss, das antat, war er freilich nicht mehr der alte, wilde. Die Regierung unter Maria Theresia hatte den Fluss schon vor-domestiziert, indem sie 1741 einleitende Wildbäche ableitete.

Vor der theresianischen Zivilisierung herrschte die Natur. Karl Hofbauer beschrieb diesen Zustand in einem 1864 erschienenen Wieden-Führer so: «Vorzeitlich, da sich der Wienfluss noch einer beträchtlichen Strömung zu erfreuen hatte, boten seine Ufer einen weit erquicklicheren Anblick denn heute, und war streckenweise auch der Lauf des Flusses ein anderer. In mehrfachen Krümmungen schlängelte sich sein klarer Wasserspiegel grünenden Rebhügeln entlang, bis in die Nähe des Kärntnertores. Hier, am alten Spitale der Wiener Bürger, wandte sich das Flussbett plötzlich nordostwärts an die Niederungen und Erdabhänge unter der Karlskirche. Nur der abgeleitete Mühlbach blieb der oberen Richtung des Flusses treu.»

Hat die Stadt ihren Namen von diesem Fluss, oder hat der Fluss seinen Namen von der Stadt? Für beides findet der Autor Argumente; die Frage wird im Buch nicht gelöst. Hofbauer bringt gegen die technokratische Zähmung des Flusses keine Einwände vor, denn: «So viel ist gewiss, dass dieses unbändige Flüsschen bisher der Stadt mehr Schaden als Vorteil zugezogen hat. Die geringen Vorteile, welche es gewährt, bestehen darin, dass ein paar Hundert daran wohnende Wäscherinnen sein Wasser benützen; dass es ein paar Mühlen treibt und den Fiakern aus jener Gegend zur Pferdeschwemme dient. Dagegen hat es Schaden, zu Hunderttausenden an Wert, schon angerichtet. Bei dem Schmelzen des Schnees; bei plötzlichen Wolkenbrüchen; bei anhaltendem Regenwetter schwillt dieser Bach, den man in trockenen Sommertagen zu Fuß überschreiten kann, jählings zu einer verderblichen Höhe; überflutet die angrenzenden Dörfer und Vorstädte, füllt Keller, untergräbt Häuser, zerreißt Brücken und Stege; und richtet mancherlei Unheil an.»

Am 4. Juli 1670 «ist ein solches Gewässer gewesen, dass ihrer viel vermeinet, Gott würde das menschliche Geschlecht mit einer Sündflut strafen», zitiert Hofbauer einen Pfarrer namens Fuhrmann. Am 5. Juni 1741 riss ein Hochwasser die Bärenmühle weg. Dies hatte Maria Theresia zum Anlass für die oben erwähnte Entkräftung des Flusses genommen.

«Auf einem Teilstück zwischen Bräuhausbrücke und Ferdinand-Wolf-Park (in Wien-Penzing) soll nun die verbaute Flusslandschaft zu einem neuen naturnahen Stück Freizeitoase werden», informierte der Pressedienst der Stadt Wien. Die Stadt geht mit der Zeit. Renaturierung ist angesagt. Aber was den Wienfluss betrifft, findet diese weit außerhalb des Zentrums statt. Den WiednerInnen bleibt der Fluss weiterhin verborgen, und nur wenige stellen die Irreversibilität dieses Umstands in Frage und äußern Fantasien wie jener Hobbyangler, der im digitalen Anglerforum öffentlich vor sich hin sinnierte: «Mein Traum ist es ja, dass der Wienfluss bis zur Urania renaturiert wird und die große Schwelle dort mit einer Fischleiter versehen wird, damit die Donaufische wieder zum Laichen aufsteigen können.»

Lee Myung Bak, der Bürgermeister der südkoreanischen Hauptstadt Seoul, der nachher zum Präsidenten des Landes wurde, empfände diesen Traum des Wiener Anglers keineswegs als utopisch. Lee ließ ein zubetoniertes Flüsschen im Zentrum der Metropole reanimieren, den Cheonggyecheon. Er war 1961 erst begraben und dann durch eine mehrspurige Stadtautobahn ersetzt worden. Die sechs Kilometer lange Autobahn führte auf Stelzen quasi durch die Wohnzimmer im Herzen Seouls. Für umgerechnet rund 300 Millionen Euro ließ Lee sie abreißen. Seither fließt der Bach wieder auf knapp vier Kilometer Länge und wurde zum Symbol einer innovativen ökologischen Kommunalpolitik. Aber der Naschmarkt, der genau über dem unterschlagenen Wienfluss liegt, ist keine Stadtautobahn – hätte Herr Lee auf die BürgerInnen gehört, die für die Rettung des Naschmarkts auf die Barrikaden gegangen wären?

Wie jede Prophetin, jeder Prophet im Grunde weiß, wird Wien nie Seoul werden. Und das ist in diesem Fall kein großes Unglück. Denn Wien kann den Beweis antreten, dass nicht nur die der Natur zurückgegebenen Gewässer reizvoll sind, sondern auch die modernen urbanen Großprojekte der Industrialisierungs-Jahrhundertwende, die heute zum Kulturerbe zählen. Dieses ist genauso bedroht wie die Inseln der Restnatur in der Stadt (und oft sogar von identischen Akteuren). Im Rahmen der «Dritte Mann»-Tour durch die Schauplätze von Graham Greens Filmthriller wird eine einmalige unterirdische Aussicht in den Wienfluss geboten, von einem der den Fluss begleitenden «Cholerakanäle» aus, die 1830 errichtet und bis heute nahezu unverändert sind. Diese Begegnung mit dem unterschlagenen Fluss bildet den Abschluss der Führung – der Fluss verschwindet unter dem Naschmarkt in einem gewaltigen Gewölbe, dessen Dimension mit Scheinwerfern eindrucksvoll in Szene gesetzt wird.

Robert Sommer

 


INFO-BOX

Dritte Mann Tour
Online-Buchung: www.drittemanntour.at

Dritte Mann Museum
www.3mpc.net/samml.htm

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05  Die Ringstraße des Proletariats

Gentrifizierung, umgedreht

Ich bin hier geboren und lebe seit 32 Jahren in Wien und habe es so satt, mich von so genannten echten Österreichern beschimpfen zu lassen. Mit welchem Recht werden die Kinder hier im Bau fotografiert oder mit der Kamera aufgenommen? Meiner Tochter wird ständig mit Wiener Wohnen gedroht, weil ich mir nichts gefallen lasse, wenn die alte Dame aus dem Fenster herunterschreit wie eine Irre. Ausländer? Meine türkische Nachbarin dagegen ist für die alte Dame eine gute Person. Aber erst, seit dem sie von der Türkin mit Baklava und anderen türkischen Spezialitäten versorgt wird. Seiher gibt´s keine Probleme mehr, vorher war die türkische Familie Problem Nummer 1 im Gemeindebau, deswegen folgte eine Beschwerde der anderen. Bekommen selber keine Kinder und drohen anderen Kindern mit Polizei, Jugendamt und Wiener Wohnen. Die Österreicher sammeln sich zusammen und reden hinterrücks und planen, wie sie es am besten erreichen können, uns Ausländern eins auszuwischen. Ja, wir sind sehr unterschiedlich – wir haben das wärmere Blut in uns. Egal wann und egal was, zu meinen ausländischen Nachbarn kann ich jederzeit gehen und verlangen, was ich brauche. Selbst wenn es Brot ist, der ausländische Nachbar sagt nicht nein. Im Bau war heute das Jugendamt bei einer Familie, danach war eine Kontrolle, die gegen 9 am Abend da war und im Hof Fotos machte. Dabei gäbe es wirklich einiges zu kontrollieren: Warum z.B. gibt es eine Sauna auf der Stiege 2 im Keller, die nur für bestimmte Leute, zufällig alles reine Österreicher, zugänglich ist? Unseren Kindern wird nicht einmal eine Rutsche hier angeboten, aber alles ist super grün und Hauptsache ist, dass immer wieder gemäht wird. Wofür? Zum Gucken?? Wir zahlen genau so mit und wir gehen auch arbeiten und wir kennen reine Österreicher, die nicht arbeiten gehen, aber was geht mich das an? Das ist doch scheißegal. Ich hätte auch Rechte und Anlässe, mich zu beschweren, aber wie gesagt, ich habe das wärmere Blut in mir!

Was sagt uns dieser Beschwerdebrief (der keiner sein will) aus einer Wohnanlage des Roten Wien, ein Dokument aus dem Jahr 2012? Erstens, dass sich zu viele Menschen, die in einer Wohnanlage nachbarschaftlich leben, einander das Leben schwer machen. Man könnte leben, aber man lebt nicht. Das Misstrauen zieht sich von der Einserstiege bis zur Siebzehnerstiege. So manche Stiegenhäuser sind die parzellierten Höllen vor der Hölle. Zweitens, die Menschen, deren Eltern als «Gastarbeiter» aus dem Ausland zugereist waren, sind selbstbewusster geworden. Vor einem Jahrzehnt wäre ein solcher Beschwerdebrief noch sehr ungewöhnlich gewesen. Sich zu beschweren, galt als Recht der Alteingesessenen. Aber was ist «alteingesessen»?

Drittens aber zeigen solche Geschichten, dass der geschichtliche Fortschritt – wenn es einen solchen gibt – heute eher nicht im Wiener Gemeindebau zuhause ist, auch nicht in dem des Roten Wien, und dass er sich generell nicht in dessen BewohnerInnen verkörpert. Um diesen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sollte man hinzufügen, dass auch andere soziale Schichten, Gruppen, Klassen den historischen Fortschritt – wenn es einen solchen gibt – nicht verkörpern, sondern dass das Individuen an ihrer Stelle tun, aus welchen Milieus auch immer. Solche Individuen wären natürlich auch im Gemeindebau zu finden. Der «Wissenschafts»-Gehalt im Marxismus ist auf keinem Feld von der Wirklichkeit deutlicher negiert worden als in der Angelegenheit der so genannten «Gesetzmäßigkeit» des Fortschritts. Nach dem Sieg der sich damals noch direkt auf Marx und Engels berufenden Sozialdemokratie bei den Wiener Gemeinderatswahlen nach dem Ersten Weltkrieg war in der «Arbeiterzeitung» am 5. Mai 1919 folgende bescheidene Prognose zu finden: «Rot flammt es am Horizont und kündigt den herrlichen, unwiderruflichen Sieg des Sozialismus an.» Das schien in der Folge zunächst gar nicht so übertrieben zu sein, vor allem, wenn man ein paar Jahre nach diesem Wahltriumph miterlebte, wie sich die Wiener Bezirke veränderten: 64.000 kommunale Wohnungen in rund zehn Jahren! Die 1923 gestartete Wiener Wohnbauinitiative sucht ihresgleichen – das zum Bau gewordene Rote Wien musste doch für gläubige SozialistInnen der Beweis dafür sein, dass der Sozialismus «unwiderruflich»zu siegen angefangen hatte.

Die rote Route

Um zu sehen, dass diese Illusion sich seinerzeit geradezu aufdrängen musste, empfehlen wir einen Spaziergang entlang der Kette folgender fünf Gemeindebauten des 5. Bezirks: Reumannhof, Metzleinstaler Hof, Matteottihof, Herweghof und Julius-Popp-Hof. Nirgends sonst hat sich das Rote Wien dichter manifestiert als in Margareten.

Wir beginnen mit dem Reumannhof, Margaretengürtel 100 -112, errichtet in den Jahren 1924 bis 1926. Der Architekt Hubert Gessner trieb hier die Schlossähnlichkeit auf die Spitze, was ihm bewundernde Zustimmung bescherte (die Vision, dass die werktätige Klasse in Palästen wohnen wird, während die Eliten kompensatorisch endlich Platz in den Gefängnissen kriegen würden, hatte in der Tat etwas Elektrifizierendes), aber auch Kritik. Kontrastierte doch der demonstrative Prunk des Superblocks mit der Bescheidenheit der inneren Wohnverhältnisse. Dafür hat der Architekt großzügig Details verstreut, die Thema einer speziellen Führung sein könnten: Sowohl die Beleuchtungskörper sind eigene Kunstwerke als auch die Stiegennummerierung, und viele andere Kleinigkeiten mehr. Hätte der mittlere Block des Reumannhofes wirklich 16 Stockwerke, wie es Gessners Plan vorsah, wäre dieser Gemeindebau zum repräsentativsten Stück der Baugeschichte des Roten Wien geworden. Es wurden schließlich nur acht Stockwerke. 

An den Reumannhof schließt sich der Metzleinstaler Hof an, Margaretengürtel 90 – 98. Er war als bürgerliches Mietshaus entstanden, wurde aber von Gessler entbürgerlicht und auch ästhetisch an die Architektur des Roten Wien herangeführt. Es folgt der Matteottihof, der nicht direkt am Gürtel liegt, sondern ein wenig in das Innere Margaretens hineinversetzt; die monumentale Toreinfahrt über der Fendigasse ist eine Art neuzeitliches Stadttor. Das Kennzeichen des Herweghofs, Margaretengürtel 82 bis 88, sind die straßenseitig gelegenen Arkaden, die – wie an einem anderen Gürtelabschnitt, nämlich entlang der Stadtbahnbögen, bereits praktiziert –  trotz des menschenverachtenden Verkehrs an dieser Hauptverkehrsader mit urbanen Funktionen ausgefüllt sein könnten; die Stadtregierung überhört die Hilfeschreie der Arkaden und vergibt die Läden hinter ihnen leider nicht so, dass sie zu Ausgangspunkten von Belebungsprozessen werden könnten. Auch der Herweghhof bietet Kunstwerke im Kunstwerk an: überraschende Details wie die Klopfstangen oder die Pergolen, jugendstil-like. Schließlich der Julius-Popp-Hof am Margaretengürtel 76 – 80, der nach außen hin wie ein Zwilling des Herweghofes wirkt.
«Ich glaube nicht, dass sich weltweit etwas Vergleichbares findet», meinte Andreas Nierhaus, der als Kurator für Architektur in der Ausstellung «Kampf um Wien» des Wien Museums das Kapitel über das Rote Wien verfasste. In den 1920er-Jahren habe es in Berlin und Frankfurt ganz tolle Wohnbaukonzepte gegeben, sagte Nierhaus, jedoch sei hinter ihnen «nicht dieses umfassende sozialreformerische Konzept» gestanden. Allein der Umfang sei nicht zu vergleichen: Für «Neues Frankfurt» entstanden in den 1920er-Jahren 12.000 Wohnungen, etwa ein Fünftel des Wiener Volumens.

Die aufgezählte Kette der Gemeindebauten am Margaretengürtel aus der austromarxistischen Episode der Stadtgeschichte ist unter Freunden und Feinden als «Ringstraße des Proletariats» bekannt. Die Ironie der Geschichte besteht darin, dass die fünf betreffenden Gemeindebauten, die heute noch einen markanten Teil des 5. Bezirks definieren, erst heute so richtig proletarisch sind. Als die Wohnungen in den 1920er Jahren vergeben wurden, waren es nicht die typischen Industriearbeiter und ihre Familien, die hier in erster Linie mit kommunalem Wohnraum versorgt wurden. HistorikerInnen der ArbeiterInnenbewegung haben darauf hingewiesen, dass die «Ringstraße des Proletariats» überwiegend von Angehörigen der Wiener «Arbeiteraristokratie» bewohnt wurde, wie Karl Marx die materiell zur  Mittelschicht tendierende Arbeiterklassenfraktion nannte. So lag der Anteil industrieller bzw. handwerklicher ArbeiterInnen unter den BewohnerInnen damals unter dem Wiener Durchschnitt, während überdurchschnittlich viele BeamtInnen und Angestellte in den fünf Gemeindebauten wohnten.

Vergleicht man die soziale Charakteristik der BewohnerInnen damals und heute, könnte man zur Ansicht kommen, auf der «Ringstraße des Proletariats» sei ein umgedrehter Gentrifizierungsprozess abgelaufen. Die Welt, die ein Auseinanderfallen der Metropolen in Viertel der VerliererInnen und gated communities der Reichen zur Genüge kennt, staunt über die Kraft der roten Superblocks, in innerstädtischen Bezirken wie Margareten, auf dessen zentrumsnahe Lage jeder Markt mit hohen Wohnungspreisen reagiert, dennoch eine soziale Durchmischung der Wohnbevölkerung in die Epoche des Neoliberalismus hinüber zu retten. Das ist zwar nicht ganz der «herrliche, unwiderrufliche Sieg des Sozialismus», den das Parteizentralorgan prophezeite, aber es ist ein sympathisches Stück Nachhaltigkeit, das der sozialdemokratischen Wohnungsoffensive der 1920er Jahre nachgesagt werden kann. Die Kehrseite ist eine Konzentration der Armut im Gemeindebau, die unter den Bedingungen der Entpolitisierung weniger zu solidarischen Handlungen der MieterInnen führt, sondern – siehe oben – zur Eskalation von Alltagskonflikten. So haben sich die fortschrittlichen Architekten den «neuen Menschen», zu dessen Geburt sie durch ihre Architektur einen Beitrag leisten wollten, nicht vorgestellt. Viele dieser «neuen Menschen» sind in den 1930er Jahren zu Hitler übergelaufen; sie haben mit den Füßen gegen die Philosophie der irreversiblen Tendenz zur Verbesserung der Welt abgestimmt.

Robert Sommer


INFO-BOX

Österreichisches Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum
(Otto-Neurath-Museum)
Ausstellung „100 Jahre Leben und Wohnen in Wien“
Öffnungszeiten:
Montag bis Donnerstag: 9.00 – 18.00 Uhr
Freitag: 9.00 – 14.00 Uhr
http://www.wirtschaftsmuseum.at/

Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung
Öffnungszeiten:
Dienstag bis Donnerstag 10-16 Uhr
und nach Vereinbarung
Tel. 0 1-545 78 70
http://www.vga.at/

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06  Der Flakturm im Esterhazypark

Beton, mit Ozean gefüllt

Der Flakturm im Esterhazypark, Wien 6, ist mit Nachnutzungen gesegnet. Die bekanntesten sind das «Haus des Meeres» mit seinem Zoobetrieb, seinen Events, seiner neuen Panorama-Dachterrasse und seiner Meeresforschungstradition, und die Kletterwand des Alpenvereins. Es sind triviale Nachnutzungen ohne Bezug zur Geschichte der Wiener Flaktürme. Aber es sind Nachnutzungen, die populär sind, von Massen besucht werden und mit dem Bau, den sie füllen (im Fall der Aquarien-Etagen) oder dessen Außenfläche sie bespielen, derart identifiziert werden, dass dieser im Bewusstsein vieler Menschen merkwürdig geschichtslos bleibt. Als ob dieser monströse Turm nicht im Zusammenhang der bisher größten Kriegskatastrophe der Geschichte stünde, sondern extra zwecks Zurschaustellung exotischer Fische zum Gaudium einer meerfernen Stadtbevölkerung in etwas klotzig geratener Form hingestellt wurde. Dabei bin ich mir gar nicht sicher, ob diese Klotzigkeit, die im Fall der beiden Betonmonster im Augarten unübersehbar ist, im Esterhazypark überhaupt wahrgenommen wird; zumindest die Kletternden der fortgeschrittenen Stadien bedauern, dass die Senkrechte nicht noch höher ist. Im Vergleich zur Eiger-Nordwand hat sie Dimensionen eines Lego-Alpenmodells. Das «Haus des Meeres», wo nur eine Scheibe Glas die Menschen vor Giftschlangen, Haien, Krokodilen oder Piranhas rettet, in ein Haus der Erinnerung zu verwandeln, ist heute weder machbar noch sehr sinnvoll; es gibt ja noch fünf andere Kriegstürme der Nazis in Wien, die auf eine solche Funktionalisierung warten und die, weil sie alle dem Denkmalschutz unterliegen, sich zu erinnerungskulturellen Verwendungen geradezu aufdrängen.

Dass die Gesellschaft das Angebot nicht annimmt, sagt einiges über sie aus. Immerhin hat die Betreibergesellschaft des ozeanischen Spektakels eine nicht in ihren Kompetenzbereich fallende Fleißaufgabe gelöst und unter der Devise «Erinnern im Innern» eine Ausstellung über die Entstehungs- und Funktionsgeschichte der Flaktürme gestalten lassen. Im Mini-Flakturmmuseum im 10. Stock stehen zweimal täglich historische Führungen am Programm. Zwei kritische Anmerkungen dazu: Die 20-minütige Führung kostet antivolksbildnerische 14,90 Euro pro Person, denn zugelassen wird man nur mit der Zoo-Eintrittskarte, auch wenn man nicht schon wieder unter die Fische will. Und die Wissensvermittlung in dieser Dachkammer des Krieges reicht nicht annähernd an das pädagogische Niveau des «Aqua Terra Zoos» mit seinen inzwischen 10.000 Tieren auf mehr als 4000 Quadratmetern Zoofläche heran. Man kann selbst von politisch interessierten OzeanologInnen im History-Guide-Status nicht erwarten, nebenbei kritische ZeitgeschichtlerInnen zu sein. BesucherInnen, deren Neugier sich genauso auf die Stellung der Organisation Todt im Nazisystem richtet wie auf das Rätsel, mit welchen Extremitäten eine bestimmte Krebsart in den Korallenriffen Schlagzeug spielt, sind wohl die wünschenswertesten; man sollte sie im Haus des Meerersatzes und der Endsiegpropaganda etwas mehr mit gesellschafts-, militär- und wirtschaftsgeschichtlichen Hintergründen verwöhnen, s´il vous plait. Es gibt eine Gemeinsamkeit zwischen den «sinnlosen Großprojekten» der Moderne – wie die milliardenverschlingenden Tunnelprojekte, viele Staudammprojekte, Flughafenprojekte, Superspitäler, gigantische Einkaufszentren oder die gegeneinander im stupiden Höhenwettbewerb stehenden Wolkenkratzer – und den sechs Wiener Flaktürmen, die ja ebenfalls Großprojekte waren, wenn auch ihre Bauzeit staunenswert kurz war, im Unterschied zu heutigen Gepflogenheiten (das Staunen vergeht bei genauerer Betrachtung: Für die Flaktürme konnte man beliebig viele Zwangsarbeiter zu Höchstleistungen verurteilen). Die Gemeinsamkeit besteht darin, dass die Vorteile, die ihre Errichtung für die Gesellschaft bringen soll, vorgegeben sind, um ihre Legitimierung gegenüber dieser Gesellschaft zu sichern.

Dass die Megatunnelprojekte der Bahn nicht den Mobilitätsinteressen der Bevölkerung, sondern den Verwertungsinteressen der Investoren dienen, ist das meistbeschriebene Phänomen in Bezug auf die Bewertung von aktuellen Großprojekten. Im Falle der drei Wiener Flakturmpaare (jedes Paar besteht aus einem Gefechts- und einem Leitturm; das Alter Ego des Turms im Esterhazypark befindet sich in der Stiftskaserne) hieß diese Legitimierungsidee selbstverständlich: Sicherheit der Bevölkerung. Sicher waren bloß die Einnahmen der mit der Nazipartei und der Rüstungsindustrie verbandelten Bauwirtschaft (in diesem Fall der «Organisation Todt», wie der mit dem Staat verflochtene bauwirtschaftliche Monopolkonzern hieß). Aus der Perspektive der Kriegsführung waren die Flaktürme sinnlos, wie man mittlerweile aus vielen Dokumenten weiß. Das Konzept der Flaktürme war bereits bei Ende ihrer Fertigstellung überholt, obwohl einem Laien die Idee damals plausibel vorkommen musste: Für Flugzeuge, die im Schwarm fliegen, ist die Parallelität des Kurses ein Muss; ein Bombenflugzeug hat also beim Zielanflug sein Ziel eine gewisse Zeit lang geradlinig anzusteuern, bis die Bomben ausgeklinkt werden können. Innerhalb dieser Strecke ist sein Ort zu jedem Zeitpunkt relativ genau vorherzubestimmen, sodass theoretisch ein Volltreffer nach dem anderen von den Flaktürmen aus gelandet werden konnte. Tatsächlich konnte die 24. Deutsche Flakdivision, zu ihr gehörten auch die drei Wiener Turmpaare, im Einsatzzeitraum von August 1943 bis März 1945 etwa135 Flugzeuge der Alliierten abschießen – was einem zu vernachlässigenden Anteil der tatsächlich geflogenen Einsätze entsprach. Von 1.000 Flugzeugen trafen die Flaks in Wien bei Tag 80, in der Nacht 65. Für die Maschinen der US-Luftstreitkräfte, besonders beschussfest und in einer Höhe von 8.000 Meter angreifend, ging von den Wiener Flaktürmen keine besondere Gefahr aus. Das Bild der Flaktürme als «Stadtmauer des 20. Jahrhunderts» entspricht einem der bekanntesten Mythen des «Sechserpakets». Das angeblich durch die Türme gebildete städtebauliche Dreieck mit dem Stephansdom als Mittelpunkt ist eine Imagination. Die Erbauungsumstände waren von alltäglicherer Natur. Für die Standortwahl waren profane Überlegungen ausschlaggebend: Man brauchte ausreichend große Bauplätze im dicht verbauten Stadtgebiet – da kommen also nur die Parks in Frage. Und in der Nähe des Bauplatzes musste ein Bahnhof sein, um die Zulieferung des Baumaterials zu gewährleisten. Im Falle des Esterhazypark-Bunkers erfolgte die Zulieferung über den Westbahnhof und über Straßenbahnschienen.

Ein weiterer Mythos sieht in den Flaktürmen einen Hinweis auf die Sorge um die Zivilbevölkerung. Ute Bauer, eine Architekturhistorikerin, die sich um sichtbare Kommentierung der Türme hinsichtlich ihrer Entstehungsgeschichte bemüht und im speziellen die Ausbeutung der Zwangsarbeiter zu einem Gegenstand der Erinnerungspolitik machen will, stellt klar: «Der Gefechtsturm im Augarten wurde erst im Jänner 1945 fertig gestellt. Dass man diesen aufwändigen Bautypus entwickelt und – trotz der Baustoffknappheit und der militärischen Lage gegen Kriegsende – umgesetzt hat, ist Zeugnis dafür, dass die Flaktürme gezielt propagandistische Funktionen erfüllen sollten. Die Bevölkerung sollte glauben, dass das NS-Regime sich um die Zivilbevölkerung kümmert, ihr Luftschutzbunker zur Verfügung stellt. Es sollte die Wehrhaftigkeit ausgedrückt werden und die Opferbereitschaft in der Bevölkerung gesteigert werden. Das heißt, es handelt sich um eine bewusste propagandistische Inszenierung der Flaktürme. In den Bauwerken heute nur die beiden Funktionen Luftabwehr und Schutzbunker zu sehen, bedeutet eine unbeabsichtigte, positive Besetzung.» Und noch ein Mythos: Die Flaktürme in Wien seien unzerstörbar. Wie erklärt man dann, dass die Hamburger und Berliner Pendants der «ostmärkischen» Flaktürme von den Alliierten abgetragen wurden? Die üppige Nachnutzung des Flakturms im 6. Wiener Gemeindebezirk, die das Innere wie das Äußere des Bauwerks modifiziert hat, lässt den «Rohbaucharakter» verloren gehen, der bei den anderen nackten Betontürmen so gewollt erscheint. Weil der Flaneur, die Flaneurin beim Flanieren nichts mehr liebt als die Begegnung mit Rätselhaftem, sei zum Schluss auf das Rätsel des Wiener Flakturmensembles als «baukunstfreie», «architekturferne» Zone verwiesen.

Die NS-Architektur hat bei repräsentativen Staatsbauten ja stets auf neoklassizistische Fassadenelemente zurückgegriffen und sie ins Monumentale gesteigert. Warum verzichtete sie bei den Flaktürmen auf jede architektonische Gestaltung? Fragwürdige Aussagen des deutschen Architekten Friedrich Tamms, der auch für die Wiener Flaktürme verantwortlich zeichnete, steigern das Rätsel. 1965 behauptete Tamms, er habe die Sichtbetonarchitektur der Flaktürme damals als endgültig angesehen. Von Tamms in der NS-Zeit verfasste Schriften wie etwa «Das Große in der Baukunst» von 1942 sprechen freilich eine andere Sprache. Eine baukünstlerische Ästhetisierung der Hochbunker und ihre Einbindung in das historische Stadtbild war eindeutig das Ziel. In einem Artikel vom Dezember 1940 wird ein oberirdischer Luftschutzbunker aus Stahlbeton explizit als «Rohbau» bezeichnet; eine Fassade nach Vorbild eines mittelalterlichen Wehrturms wurde vorgeschlagen. Was die Berliner und Hamburger Flaktürme betrifft, Tamms nannte sie «Schießdome», sind Skizzen und Pläne zur nachträglichen Umgestaltung bekannt. Eine rustikale Verkleidung der Stahlbetontürme mit Natursteinen und die Einbindung von Gefechts- und Leitturm in einen «Aufmarschplatz» war projektiert. Wie hätte Tamms Wien beglückt, hätte Seinesgleichen den Weltkrieg gewonnen! Sechs in der Sonne leuchtende Marmortürme, das war der Wiener Plan für die nächsten tausend Jahre. Tamms verkörpert die wunderbare «Metamorphose» von NS-Karrieristen in wertvolle Mitglieder der demokratischen Nachkriegsgesellschaft. 1934 war er Mitarbeiter Albert Speers bei dessen ersten großen Auftrag, dem Bau der Reichskanzlei. 1935 wurde er zum Fachberater für Angelegenheiten des Autobahnbaus ernannt. Während des zweiten Weltkrieges baute er Flaktürme und war gleichzeitig dafür zuständig, zerbombte Städte wiederaufzubauen, was ja nicht nötig geworden wäre, wenn die Flaktürme jene defensive Wirkung erzielt hätten, die Tamms suggerierte. Im April 1948 übernahm der Nazi-Architekt das Amt des Leiters für den Wiederaufbau in der Gemeinde Düsseldorf. Tamms war bis 1969 der oberste Düsseldorfer Stadtplaner. Er brachte seine gesamte Architektenseilschaft, die Clique rund um Speer, im Magistrat von Düsseldorf unter. Auf ausdrückliche Empfehlung von Speer waren diese Berufskollegen nicht der NSDAP beigetreten und hatten daher, wie Tamms selbst, problemlos die alliierte Entnazifizierungsphase passiert. Tamms starb 1980 und muss noch mitgekriegt haben, dass einer seiner Wiener Türme sich mit Wasser füllte und dass die BesucherInnen seines Turmes mehr an den wachsenden, sich natürlich und durch Zulieferung vermehrenden Bevölkerungen dieses vivarischen Gewässers, an Hammerhaien, nordatlantischen Kuhnasenrochen und atlantischen Suppenschildkröten interessiert sind als an seinem scheinbar irreversiblen und unsterblichen Beitrag zur Silhouette der Hauptstadt Österreichs. Sollte ihn dieses Prioritätengefälle betrübt gemacht haben, teile ich das Betrübnis. Wenn auch aus einem ganz anderen Grunde. Es darf nicht in Vergessenheit geraten, dass vor 70 Jahren Sklaven sterben mussten und die zum Teil schönsten städtischen Parkanlagen geschändet wurden für das Unternehmen, unter dem Vorwand des Schutzes der Bevölkerung ein Baumonopol zu finanzieren, das den Segen Hitlers hatte.

Robert Sommer


INFO-BOX

Haus des Meeres
1060 Wien, Fritz Grünbaum-Platz 1;
http://www.haus-des-meeres.at/

Interdisziplinäres Forschungszentrum
Architektur und Geschichte – iFAG;
http://www.if-ag.org/

(mit Publikationshinweisen zu Ute Bauers Arbeiten zu den Flaktürmen)

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07  Das Museumsquartier

Occupy the Enzis!

Zur Zeit der Vollendung des MuseumsQuartiers (im folgenden MQ) im 7. Wiener Gemeindebezirk im Jahr 2001 galt es als das achtgrößte Kulturareal der Welt, informiert Wikipedia. Das ist eine statistische Größe, die unbrauchbar ist für jegliche Vergleiche. Es gibt Orte, die keine Kulturareale benötigen, weil sie insgesamt Räume verdichteter, musealer und zeitgenössischer Kultur sind. Es gibt Orte wie Squat Tempelhof, die Freifläche des ehemaligen Berliner Flughafens, deren BesetzerInnen 400 Hektar in ein Gesamtkunstwerk verwandelt haben, das in keinem Ranking der offiziellen Kulturareale aufscheint. Diese Bemerkung soll die Bedeutung des MQ für Wien nicht kleinschreiben. Wer heute bei schönem Wetter durch die Höfe des MQ spaziert, nimmt die Lebendigkeit des Quartiers wahr, auch wenn es zum Teil eine paradoxe Lebendigkeit ist: hunderte zumeist jüngere Menschen dösen in den «Enzis» genannten Multifunktionsmöbeln und wirken grad nicht sehr lebendig. Wegen der (gefühlten) sozialen Zusammensetzung der Ruhenden, Schlafenden, Pausierenden, Lesenden, Schmusenden, SonnenanbeterInnen und NixtuerInnen wird der große Innenhof des MQ auch Bobo-Schlafzimmer genannt. Zusammen mit den NutzerInnen der vielen Schanigärten der MQ-Gastronomie ergeben die «Enzi»-OkkupiererInnen eine Population, die jeden Vorwurf, das MQ werde «nicht angenommen», entkräftet.

Nicht alle in Wien sympathisierten freilich mit der Anfang der 1980er Jahre aufkeimenden Idee, hier etwas aufzustellen, was sich mit dem Pariser Centre Pompidou messen könne. Es soll sogar Menschen gegeben haben, die sich ein Comeback der Pferde wünschten. Das heutige MQ-Hauptgebäude wurde ursprünglich für die Hofstallungen der Habsburger Kaiser genützt. Nach dem Ersten Weltkrieg verwandelte sich das Gebäude in den «Messepalast». Die erste Wirtschaftsausstellung erfolgte 1921. Im letzten Jahrfünft des «1000-jährigen Reichs» wurde der Messepalast für diverse NS-Propaganda-Events missbraucht. Weil ein steigendes BIP auch wachsende Wirtschaftsmesse-Flächen verlangt, eine der nachvollziehbarsten Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus, wurde der Messepalast den Anforderungen der Warenpräsentation nicht länger gerecht. 1986 wurde ein Architekturwettbewerb ausgeschrieben, bei dem fast 90 verschiedene Projekte eines Wiener Zentrums für moderne Kunst eingereicht wurden. Mit einstimmigem Jurybeschluss gewann das Projekt der Architekten Laurids und Manfred Ortner.

Ortner & Ortner spürten dann, wie es ist, zwischen allen Sesseln zu sitzen. Dieter Schrage, damals Kurator des Museums Moderner Kunst und Bezirksrat der Grünen im 7. Bezirk, schätzte zwar das Siegerprojekt, kritisierte aber den Standort:
An sich wäre meine Position in Sachen Museumsquartier klar. Bereits 1986 habe ich gemeinsam mit dem inzwischen verstorbenen Wiener Stadtplaner Willi Kainrath den Standort Messepalast für die damals vorgesehene «Museumsinsel» aus städtebaulichen Überlegungen abgelehnt. Wir sahen keinen Sinn darin, dass in einem kulturell überprivilegierten Innenstadtbezirk noch ein groß dimensioniertes Kulturzentrum hineingepfercht werden soll. Das erschien uns kulturpolitisch, demokratiepolitisch und auch verkehrspolitisch bedenklich. Und wir traten dafür ein, dass die Chance der Finanzierung eines sehr komplexen und repräsentativen Kulturgeländes dazu genützt werden sollte, jenseits der Donau endlich qualitätsvolle urbane Strukturen zu schaffen. In diesem Zusammenhang ist doch zu sehen, dass Transdanubien, eine «Stadt» in der Größe zwischen Linz und Graz, fast ohne kulturelle Infrastruktur ist.

Durch seine eindeutige Offenheit und Orientierung zu den beiden großen Ringstraßenmuseen und zur Hofburg bleibe das Museumsquartier eine Angelegenheit des 1. Bezirks. Eigentlich weite sich der 1. Bezirk durch das MQ in den 7. Bezirk hinein aus. Er habe Probleme mit dem Planungsprozess, aber keine Probleme mit der Ortner & Ortner-Architektur. «Und schon gar nicht mit dem Leseturm», musste Schrage hinzufügen.

Er musste es, um sich von jenen KritikerInnen abzugrenzen, die das MQ-Projekt aus ganz anderen Gründen bekämpften. Mehr noch, er fühlte sich veranlasst, zu einem leidenschaftlichen Verteidiger des Bauprojekts zu werden, als ein politisches Milieu rund um die Kronenzeitung und die FPÖ zum Kulturkampf gegen das MQ-Projekt aufbrach, wobei besonders ein Teil des Komplexes dämonisiert wurde: Der «Leseturm», der aus der Sicht der beiden Ortners ein weithin sichtbares Signal für das Buch, für die Literatur und für die neuen Medien sein sollte – also eine wichtige kulturpolitische Botschaft auszudrücken hatte. Der Leseturm war bewusst als Gegenspieler des sehr nahe gelegenen Flakturms aus der Nazizeit gedacht – Propaganda für Literatur statt Propaganda für den Endsieg. Die «Bürgerinitiative gegen das Museumsquartier», dessen bekanntester Repräsentant Bernd Lötsch war, meinte aber nicht den Flakturm, sondern den Leseturm, wenn sie gegen die »Verschandelung des 7. Bezirks durch Monsteraufbauten» wetterte. Der Kunstpädagoge Julius Mende wies darauf hin, dass die Feindlichkeit der Bevölkerung gegenüber der vorgesehenen ästhetischen Synthese von alt (ehemalige Hofstallungen) und neu (v.a. Leopold-Museum und Museum Modernen Kunst) sich aus zwei unterschiedlichen Quellen speise:

Die Ballung von Museen, Theatern, Feudalbüros und Nobelgeschäftszentren in der City ist gewissermaßen die naturwüchsige Konzeption der auf Repräsentation bedachten Politiker, der Innenstadtschickeria und natürlich der Fremdenverkehrswirtschaft. Die Vernachlässigung und Verödung der Peripherie ist ebenso die Folge solcher Konzepte wie die Verödung der Innenstadt, speziell in der Nacht. Die Interessen der Kunst- und Museumscliquen treffen sich mit denen der Politiker und der Geschäftsleute. Der Bevölkerungsprotest (gegen den Leseturm, R.S.) hat eine Wurzel in dieser Arroganz der Macht. Die andere ist allerdings die rückwärtsgewandte Romantisierung der Altstadt, die jede gewagte, moderne Architektur ablehnt, weil die Idylle zerstört wird. Die Frage, die zu stellen wäre, ist die nach einem nichtelitären Zugang zum modernen Kunstschaffen. Eine solche Orientierung aber befindet sich derzeit in der Krise. Statt um den ominösen Leseturm zu streiten, sollten sich breitere Kreise um ein lebendiges, menschenfreundliches Museumskonzept streiten, damit die Priester der hohen Kunst von ihren Altären geholt werden. Aber darum schert sich außer ein paar MuseumspädagogInnen niemand.

Im Oktober 1994 traf der damalige Bürgermeister Helmut Zilk eine Entscheidung gegen den Leseturm. Es war eine populäre Entscheidung. Es war eine populistische Entscheidung. Der doofe Flakturm blieb allein und bekam kein kluges Brüderlein. Kein anderes Gebäude innerhalb des MQ erfüllt die Funktionen des undurchsetzbar gewordenen Leseturms. Das Verbliebene ist immer noch voller Vielfalt. Die beiden Superblöcke Leopold-Museum und MUMOK (Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig) verkörpern den Einbruch der Moderne in das kaiserliche Ensemble. Beide Komplexe sind vom Architektenbüro Ortner & Ortner entworfen worden. Das erstgenannte ist mit weißem Muschelkalk verkleidet, letzteres mit dunklem Vulkangestein. Das erstgenannte ist der «Hofstall» von Egon Schiele. Nirgends sonst auf dieser Welt gibt´s mehr von Schiele. Letzteres versteht sich als Kompetenzzentrum für den Wiener Aktionismus und beherbergt Arbeiten von Günter Brus, Otto Muehl, Hermann Nitsch und Rudolf Schwarzkogler. Als selbsternanntes Kompetenzzentrum muss es sich immer wieder die Frage gefallen lassen, ob Aktionismus im Museum überhaupt darstell- und vermittelbar sei. Die Kunsthalle Wien ist die dritte Institution der Hochkultur im MQ. Die weiteren Teile sind das Tanzquartier Wien, das Architekturzentrum mit der öffentlichen Bibliothek, das ZOOM Kindermuseum, der «Dschungel Wien» als Theaterhaus für junges Publikum und das quartier 21, in dem der «Kleinkram» am Gesamtprojekt partizipieren kann: Ateliers, Agenturen, Archive, Büros, Redaktionen, Veranstaltungssäle, eine Buchhandlung – für viele die demokratische Abteilung des MQ.

Insgesamt fällt es schwer, sich das MQ als eine von «mit Demokratie durchfluteten Institutionen» vorzustellen, um eine Vision von Bruno Kreisky zu entlehnen. Als Maß der Liberalität und der Toleranz in den großen Städten ist immer wieder der Grad der Freiheit des Sprayens und damit die Dichte der unaufgefordert gesprayten Artefakte genannt worden. Ist Ihnen schon aufgefallen, dass es in Wien ein zentral gelegenes Stadtviertel gibt, das völlig graffitifrei ist? Wem´s nicht aufgefallen ist, der hat es nun erraten: Es handelt sich um das Kunstareal namens MQ. Ein zweites Kriterium für Liberalität und Toleranz ist, inwieweit die Benützung des öffentlichen Raumes innerhalb des MQ durch Verbote und Verordnungen reguliert ist. Im unruhigsten aller Jahre im bisherigen MQ-Leben, im Jahr 2009, eskalierte ein Konflikt zwischen Management und Bevölkerung.

Das Management, das den öffentlichen Status der Innenhofflächen vehement bestritt und die Kompetenz zu besitzen glaubte, BesucherInnen das Trinken mitgebrachter Dosenbiere zu verbieten, bekam die mobilisierende Macht des Facebook zu spüren:

MISSION: Das neue Verbot des Museumsquartiers von mitgebrachten, alkoholischen Getränken zu Fall zu bringen. Wir wollen alle gemeinsam eine Bring-Your-Own-Beer Initiative im Hof des Museumsquartiers auf die Reihe bringen. Dazu müssen wir Leute und die Presse mobilisieren: Ladet eure Freunde ein (rechts findet ihr den Knopf «Invite People to Come» bzw. «Jemanden einladen»). ORT/ZEIT: Samstag, 20. Juni 2009, 18.00-18.05 Uhr. Innenhof des Museumsquartiers (Museumsplatz 1/5, 1070 Wien). Bitte eure Uhren einstellen! Sexy wird die gemeinsame Initiative nur dann, wenn alle halbwegs gleichzeitig starten. VORGEHENSWEISE: Ab 18 Uhr wird 5 Minuten lang während des Trinkens regelmäßig laut zugeprostet! ZIELGRUPPE: Alle, die ein Interesse daran haben, ihre mitgebrachten Getränke weiterhin im MQ trinken zu dürfen. GRUND: Das MQ ist ein öffentlicher Platz und wird mit unseren Steuergeldern finanziert, im Jahr 2005 mit ca. 11 Mio. Euro. Wir sehen nicht ein, wieso wir dazu gezwungen werden sollten, das Bier vor Ort zu kaufen!

Der Refrain «You can do what you want» aus einem Cat Stevens-Klassiker wurde zur Losung dieser frühen Occupy-Bewegung. Die TeilnehmerIinnen wurden nicht nur aufgerufen, eigene Getränke mitzubringen. Gesucht werden auch «Dauerfahrradschieber», «Blasmusikkapellen» oder «Nacktfahrradfahrer» – und Müllsäcke, um keinen Anlass zur Kritik zu liefern. Der damalige MQ-Direktor Wolfgang Waldner beschwichtigte vor JournalistInnen: gegen Jugendliche, die friedlich ihr mitgebrachtes Bier trinken, wolle man nicht einschreiten, sondern bloß «Exzessen vorbeugen». Eine «Überreaktion des Personals» habe zur Kontroverse geführt. Unterstützt wurde Waldner durch die seltsame Indifferenz des Leitorgans im Bobo-Schlafzimmer, des «Falter», der einst radikal oppositionell gegenüber der Stadtplanung war, aber nun die Devise ausgab: «Es gibt edlere Kämpfe als jenen um das Recht, gratis auf bunten Plastikliegen zu lümmeln.» Das war jedoch eine Missdeutung der Anliegen der «Occupy MQ»-Bewegung (die sich damals noch nicht so nannte). Denn den InitiatorInnen der Flashmobs ging es nicht darum, den Platz nach den Regieanweisungen des MQ-«Bürgermeisters Waldner zu nützen. Wer auf den «Enzis» liegt, wird quasi zum Teil der künstlerischen Installation. Die Protestbewegung pochte vielmehr auf das Recht der MQ-BesucherInnen, die freien Plätze der Wiener Museumsinsel als urbane Allmende ohne jede Reglementierung von oben zu gebrauchen. Und die beiden Erfinder der Enzis, die ArchitektInnen Anna Popelka und Georg Poduschka, kriegten in diesem elektrisierten Jahr 2009 mit, wie es ist, zwischen allen Enzis zu sitzen …

Die aktuelle Situation: Eine kleine Umfrage im Gelände unter Menschen, die sichtbar ihre mitgebrachten alkoholischen Getränke benutzten, ergab, dass die große Mehrheit nicht aus Protest trank. Weil fast niemand sich vorstellen konnte, dass ihr Tun ein Delikt sei oder zumindest einmal eines gewesen wäre. Von der Bewegung für die freie Benützung des MQ-Areals wussten die meisten nichts.

Robert Sommer


INFO-BOX

MuseumsQuartier: http://www.mqw.at/

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08  Das graue Haus

Man kann auch ausbrechen

Zwischen den monströsen Gebäuden der Nationalbank im 9. Bezirk und der Justizanstalt Josefstadt im 8. Bezirk liegt Wiens uncharismatischste Rasenfläche. Eine repräsentative Stichprobe vor Ort ergab: Niemand kennt ihren Namen, obwohl sie deren zwei hat: Ostarrichi-Park und Otto Wagner-Platz (zwei Befragte tippten auf: Nationalbankplatz). Vielleicht ist der Umstand, dass das unstrukturierte Grün das Dach einer Tiefgarage bildet, für das Charismadefizit verantwortlich. Eine Guerilla-Gardening-Initiative, die hier Obstbäume zu pflanzen versuchte, hatte eine andere Erklärung für die absolute Absenz von Flair auf dieser Grünfläche ohne Eigenschaften: zwischen zwei Häusern der Lüge könne es keinen Kraftort geben, nur einen Unort. Wie zur Bestätigung dieser abenteuerlichen These hatten die Bäume der GuerillagärtnerInnen keinerlei Überlebenschance.

Häuser der Lüge? «Die Bank lügt uns vor, es gäbe keine Alternative zum Geld. Das Gefängnis behauptet, es bessere die Insassen. Das war schon eine Lüge, als es 1839 eröffnet wurde. Strafen, Erziehen und Wiedergutmachung waren schon damals die Ziele des Staates in Bezug auf den Strafvollzug. Schon damals wusste man, dass das nur Rhetorik ist», sagte ein Redner beim Pflanzversuch. Er wies auf ein 1783 erschienenes Buch mit dem Titel «Annehmlichkeiten in Wien» hin, in dem ein Autor namens Perinet feststellte, dass die Delinquenten beim Verlassen des Gefängnisses «schlechter befunden werden» als beim Antritt der Haftstrafe. Die Idee des Gefängnisses als Universität des Verbrechens ist hier vorformuliert.

Heute liegt ein Ozean von wissenschaftlichen und publizistischen Angriffen gegen das Prinzip des staatlichen Strafens vor. Die leider von den Mainstream-Medien nicht vermittelt werden, muss man dazu sagen. Was dazu führt, dass es keine gefängniskritische Bewegung in Österreich gibt. Niemand stellt die Frage, warum die Gefängnisse heute überfüllt sind, obwohl man wissen kann, dass lange Haftzeiten, ja Vorstrafen überhaupt, Integrationsverhinderer sind. Im Grauen Haus – beziehungsweise im Landl, wie der Komplex liebevoll genannt wird, weil er neben der Justizanstalt auch das Landesgericht für Strafsachen beherbergt – gibt es offiziell 921 Häftlingsbetten. Doch es hält zur Zeit rund 1200 Personen fest. Gäbe es eine innovative Justizpolitik (Ansätze dafür gab es in der 70er Jahren unter Justizminister Broda), wäre der Überbelag beseitigt, und die 921 Betten würden genügen, um den Strafvollzugsbedarf ganz Österreichs zu decken. Mit Strafvollzugs-Alternativen wie dem «Außergerichtlichen Tatausgleich», der hierzulande in Teilbereichen der Konfliktlösung angewandt wird, oder wie den in Irland, Neuseeland und Kanada bewährten Maßnahmen der «restorative justice» könnten – wenn die Politik es wollte – die Gefängnisse leergefegt werden, zumal die Rückfallsquote bei diesen alternativen Modellen empirisch minimal bleibt.

Falls uns diese Utopie heimsuchen würde, sollte sie nicht unbedingt zur Schlussfolgerung führen, die restlichen Schwerverbrecher hier zu konzentrieren: Die Lage im Zentrum Wiens wäre zu wertvoll. Vorzuziehen wäre der Umbau des Grauen Hauses in ein Museum der österreichischen Justizpolitik, das sich allerdings einer «Geschichte von unten» verpflichtet fühlte. Die Geschichte des Grauen Hauses ist eine Geschichte des Kriegs der Großen gegen die Kleinen. Der Prozess gegen den Liebling der Arbeiterklasse in der Zeit des Ersten Weltkrieges, Friedrich Adler, fand hier statt. Adler hatte den allseits gehassten Ministerpräsidenten Graf Stürgkh erschossen – ein Attentat gegen die Kriegstreiber, aber auch ein Schuss vor den Bug seiner Partei, der Sozialdemokratie, die es ablehnte, die werktätige Bevölkerung gegen den Krieg zu mobilisieren. Der Prozess endete mit einem Todesurteil – doch wenn Adler nicht schließlich begnadigt worden wäre, hätte es den ArbeiterInnenaufstand, der im Jänner 1918 ausbrach, schon im Jahr zuvor gegeben. Auch der Schattendorf-Prozess fand im Grauen Haus statt – bekanntlich endete er mit skandalösen Freisprüchen für Arbeitermörder. Die schwärzeste Zeit in der Geschichte der größten österreichischen Justizanstalt war die NS-Zeit. Etwa 1200 von der NS-Justiz verurteilte Personen wurden während der Hitler-Herrschaft durch das Fallbeil hingerichtet. Das Haus der Lüge war auch zum Haus des Todes geworden.

Man kann auch ausbrechen aus diesem Haus. Am 13. April 2005 schaffte ein ukrainischer Häftling die Flucht aus der Justizanstalt. Ein falscher Rechtsanwalt hat ihm Kleidung ins Gefängnis geschmuggelt. Er hat ein gefälschtes Bestellungsdekret, eine gefälschte Sprechkarte und einen falschen Ausweis vorgelegt und ist so mit dem Häftling in ein nicht überwachtes Zimmer gekommen, wo er ihm die in einem Koffer mitgeführten Kleidungsstücke überreicht hat. Anschließend sind beide unbehelligt aus dem Gebäude marschiert, vor dem bereits ein Fluchtwagen gestanden ist. Am 30. Juni 2011 ist einem Serben die Flucht geglückt. Der Untersuchungshäftling hat sich am Entlassungstag seines Zellenkollegen als dieser ausgegeben und ist anstelle seines Kollegen entlassen worden. Er konnte untertauchen. Von Österreichern, die flüchten konnten, ist nichts bekannt: Wir bitten um Benachrichtigung, sollten wir uns in dem Punkt getäuscht haben.

Wenn Sie einmal in der Nähe sind, wagen Sie einen Rundgang um den Häuserblock, in den das Graue Haus integriert ist. Der Ausgangspunkt ist Adams Biergarten am linken vorderen Eck. In der Florianigasse finden sie eine Cocktailbar, einen Schuhmacher, eine Trafik, eine Pizzeria und das Gasthaus zur Wickenburg. Ecke Florianigasse-Wickenburggasse liegt die Zentrale des österreichischen Jagd- und Fischereiverbands. Seine Auslagen im Stil «realer Sozialismus» bieten Bücher darüber, wie man Wildschweine schützt, wie man Wildschweine zubereitet und wie man Wildschweine schießt. In einer dieser Auslagen sind die hässlichste Krawatten der Welt ausgestellt (trug Jägermeister Konrad etwa Dinger dieser Art?).

Nun biegen Sie in die Wickenburggasse ein und treffen auf das Haus, in dem 1865 der ungarische Maler Mihaly Munkacsy wohnte. Es ist der Künstler mit dem schönsten Todesdatum (1. Mai 1900), aber mit einem Todesort zum Schämen. Munkacsy starb in der Irrenanstalt Endenich in geistiger Umnachtung, nachdem er durch eine Liaison mit einer französischen Adeligen das Leben eines Fürsten gelebt hatte. Drei Liegenschaften weiter, Wickenburggasse 15, ist die Kontrahentin aller Fürsten dieser Welt präsent. Der Gemeindebau aus dem «roten Wien» trägt den Namen der Wiener Rebellin Therese Schlesinger. Als Tochter eines jüdischen Papierfabrikanten startete sie in der bürgerlichen Frauenbewegung, wandte sich aber bald – inspiriert von Friedrich Adler – dem Marxismus zu. Beim ersten Frauentag (1911) spielte sie organisatorisch und inhaltlich eine prägende Rolle. In dem emotionsgeladenen Zustand, der sie bei der Frauentagspremiere erfasste, muss ihr Genosse Pathos die Feder geführt haben (Therese selber erschrak angeblich später über das Pathetische ihres Aufrufs an die Männer): Ihr Männer stehet uns zur Seite / Heraus, wer Sozialist sich nennt / Wir helfen euch in eurem Streite / Wenn er auch noch sei heiß entbrennt / Nun müsst ihr eure Hilf uns leih‘n /Soll uns der Preis gewonnen sein. Was von diesem revolutionären Pathos blieb, kann man sehen, wenn man ein paar Schritte in den Innenhof des Gemeindebaus macht: Ein Gartenzwergparadies breitet sich im Zentrum der Anlage aus. Ein besserer Teil des Erbes der Frauenrechtlerin Therese Schlesinger ist zwei Häuser weiter untergebracht: der feministische Milena Verlag. Auf Wickenburggasse 21 sind alle Bücher, die hier verlegt werden, käuflich zu erwerben. Zweimal noch um die Ecke (das Yuppielokal «Edison» verschmähend), und sie sind wieder beim Ausgangspunkt, wo in Adams Bergarten die Schinkenfleckerl warten. Während Die darauf warten, versetzen Sie sich ins Innere des Blocks. Denken Sie zweimal an die Tausendzweihundert. Einmal als Zahl der derzeitigen Häftlinge, einmal als Zahl der von der Nazijustiz Füsilierten.

Robert Sommer


INFO-BOX

Milena Verlag: http://www.milena-verlag.at/

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09  Die Strudlhofstiege

Der entschleierte Genius Loci

„Ich liebe diese Stiege so sehr und die Örtlichkeit überhaupt", fuhr Melzer fort. „Und ich kann's gar nicht verstehen, daß die Menschen hier so achtlos und ohne Achtung vor dem Werk hinauf und hinunter rennen. Denn es ist doch ein Werk. Wie?" „Wie ein Gedicht, genau so", sagte Stangeler. „Es ist das entdeckte und Form gewordene Geheimnis dieses Punktes hier. Der entschleierte genius loci. Dieser Sachverstand liegt jedem bedeutenden Bauwerk zugrunde, und tiefer noch als dessen Fundamente: dem Palazzo Bevilaqua in Bologna oder der Kirche Maria am Gestade in Wien. Der Platz war in beiden Fällen ausgespart. Auch für die Strudlhofstiege, auch wenn sie keinen Punkt in der Kunstgeschichte markiert, heute wenigstens und für uns. Die Zukunft kann auch das sehr anders wenden." (Aus dem Roman «Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre» von Heimito von Doderer, S.490)

Die Strudlhofstiege ist die menschlichste Stiege Wiens. Weil sie die schrittgerechteste ist. Das ist kein Treppenwitz. Heimito von Doderer schon war fasziniert von diesem «schrittgerechten Bauwerk». Doderer liebte die bemerkenswerte Stiegenanlage an der Liechtensteinstraße im 9. Wiener Gemeindebezirk auch noch aus anderen Gründen. Zum Beispiel weil sie in ihrem Aufbau «strophengeteilt wie ein Gedicht» sei. Vor allem liebte er sie aber, weil die Treppenmaße offenbar genial geplant waren. Man schreitet hier unbeschwerter hinauf als man es z. B. auf den Wiener Linien-Rolltreppen tut, im Fall einer plötzlichen Betriebsstörung. Doderer hat den Architekten der Strudlhofstiege, Johann Theodor Jaeger, in den Himmel gehoben. Als einen «über sich selbst hinausgewachsenen Ingenieur und Humanisten» hat er ihn bezeichnet. Treppologie ist eine Wissenschaft, und Jaeger muss ein Treppologe gewesen sein. Sehr wahrscheinlich, dass Jaeger über den französischen Baumeister Francois Blondel Bescheid wusste, der im 17. Jahrhundert neben der Schrittmaßregel die Bequemlichkeitsregel für eine angenehme Begehbarkeit von Treppen formulierte. Er stellte die Formel «Auftritt minus Steigung = 12 cm» auf. Die Breite der Fußauftrittsfläche einer Stiege muss also in einem richtigen Verhältnis zur Stufenhöhe sein. Die Wissenschaftlichkeit seiner Vorgangsweise ist heute unbestritten. Am Anfang des 20. Jahrhunderts versuchte ein Dortmunder Arbeitsphysiologe, die günstigste Treppengeometrie durch Experimente mit 1000 Personen zu ermitteln. Er ließ diese Personen verschiedene Steigungsverhältnisse laufen und maß den Kraftverbrauch. Er kam zu Blondels Ergebnissen. Auch «für mich» schlendern Leute zwecks Untersuchung der Bequemlichkeit hinauf und hinunter. Realiter verhält es einfach so, dass ich zufällige Fußgänger_innen auf der Treppe nach ihrem Treppengefühl befrage. Jede und jeder bestätigt mir die besondere Qualität dieses Stufenkunstwerks. Ich habe einen Maßstab mitgenommen und messe die Dimensionen der Stufen. Das Ergebnis hat überraschenderweise wenig mit Blondels goldenem Schnitt zu tun. Die Schrittgerechtigkeit der Strudlhofstiege bleibt für einen Laien wie mich also weiter ein Rätsel. Gibt es außer den geometrischen Voraussetzungen des Wohlfühlens auf einer Treppe auch noch weitere Faktoren? Der Kraftvebrauch, von dem die Rede war, muss auch psychisch determiniert sein. Der gefühlte Kraftverbrauch kann gegen Null tendieren, wenn die Flaneurin, der Flaneur zum Zeitpunkt der Begehung der Strudlhofstiege in die Lektüre des österreichischen Beitrags zur Weltliteratur vertieft war, Doderers 900-Seiten-Roman «Die Strudelhofstiege etc.». Sind es der Mythos und die Symbolik des Bauwerks, die unsere Schritte leicht machen? Eine mögliche Antwort? In ihrer Arbeit über Doderer schreibt Christine Korntner über den Roman, der für den Schriftsteller den Durchbruch bedeutet: «Diese Stiege wird zum Symbol für die Kunst und auch für ein Leben, das sich über den bloßen Zweck hinaushebt. Um es mit seinen Worten zu sagen: Über die Hühnerleiter formloser Zwecke zu Dignität und Dekor mit schrittgerechten Stufen. Die Strudlhofstiege zu Wien wird für ihn in ihrer Konstruktion und Erscheinung das Symbol schlechthin für unser aller so kompliziertes Leben.» Bei meinem Lokalaugenschein treffe ich einen älteren Herrn, der auf einer der Bänke des Stiegenkomplexes sitzt. Ich frage ihn, was er über die Strudlhofstiege erzählen könne. Nun, er sei kein Historiker, aber doch eine Auskunftsperson. «Weil ich auf der Stiege wohne», meint er augenzwinkernd. Das heißt, er sitzt oft tagelang auf einer der Bänke. Er kramt einen Alsergrund-Bezirksführer aus der Tasche, blättert und liest mir eine Passage aus Doderers Roman vor, die Stiege betreffend. Dann bestätigt er meine Vermutung, dass sich Erbauer Jaeger im Grabe umdreht, wenn er sieht, wie sehr der Stiegenaufgang durch das moderne Gebäude des Hotels Strudelhof verschandelt ist. Dafür sei das Palais am oberen Ende der Stiege, das ebenfalls zum Hotel gehört, mustergültig saniert. Ende des 17. Jahrhunderts hatte der Maler Peter von Strudl dieses Gebäude gekauft, das in Folge Strudelhof genannt wurde. 1905 erwarb Leopold Graf von Berchtold, der Außenminister der Habsburgermonarchie, den Strudlhof. Der Erste Weltkrieg ging somit vom Strudlhof aus (eine These, die mindestens genauso richtig ist wie alle anderen herumschwirrenden, simplifizierenden Kriegsausbruchs-erzählungen). Berchtold war d e r Serbienfresser der österreichisch-ungarischen Elite. Er hatte genug Einfluss, die Gründung des Staates Albanien voran zu treiben, um Serbien den Zugang zur Adria abzuschneiden. Nach dem Attentat in Sarajewo, das Wasser auf seine Mühlen bedeutete, lud er alle Minister, Armeeführer und andere Honoratioren zu sich in den Strudlhof ein. Dieses militaristische Kollektiv verfasste dort das berühmte Ultimatum an Serbien, in dem einige Passagen bewusst so formuliert wurden, dass eine Annahme der Drohschrift durch den neuen Staat Serbien ausgeschlossen war. Informell wurde also Serbien vom Strudlhof aus der Krieg erklärt. Seit damals «tanzen» die Kongresse im Palais Strudlhof, und die Resultate sind gemischt: die einen verbessern die Welt, die anderen zerstören sie. Zu den Zusammenkünften der erfreulichen Art zählt wohl 1970 das Vorbereitungstreffen der Amerikaner und der Sowjets für das SALT 1-Abkommen. Ein weiterer Krieg geht hoffentlich von Strudlhof nicht mehr aus.

Robert Sommer


INFO-BOX

Buchtipp:
Die Strudlhofstiege. Biographie eines Schauplatzes.
Hrsg. v. Stefan Winterstein.
Wien: Bibliophile Edition 2010, ISBN 978-3-9502052-9-9

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10  Der Reumannplatz

Der Raum, der uns anblinzelt

«Der Flaneur schlendert ziellos dahin und überdeckt das Nichts, das er um sich und in sich spürt, durch eine Unzahl von Eindrücken» (Siegfried Kracauer). Und wenn der Flaneur oder die Flaneurin sich auf eine Bank setzt und stundenlang nur seine/ihre Blicke herumschlendern lässt, um das Nichts um und in sich et cetera, et cetera... Bleibt er Flaneur? Bleibt sie Flaneurin? Hier der Versuch einer Antwort, warum man am Reumannplatz in Favoriten auch sitzend flanieren kann. Erstens gibt es in keinem Grätzl Wiens eine mit dem Reumannplatz vergleichbare Sitzbankdichte. Nicht nur die Zahl der Bänke beeindruckt, auch ihre Bequemlichkeit. In der Kärntnerstraße oder im Resselpark könnte man gar nicht sitzend flanieren. Hier scheint das Stadtmobiliar in erster Linie die Funktion zu haben, die Menschen in die Schanigärten der Kommerzgastronomie zu treiben. Weil mit Flanierenden und Beobachtenden das Bruttoinlandsprodukt nicht zu steigern ist. Weil Wachstum, Wachstum, Wachstum angesagt ist.

Aus welchen weiteren Gründen ist der Reumannplatz flaneriefreundlich? Er hat die Menge, die ein wichtiger Bestandteil des Flanierens bleibt. Das beobachtete Volk kann in eine «Vielzahl von Eindrücken» auseinanderdividiert werden. An lauen Spätnachmittagen oder Abenden wurlt es am Reumannplatz. Zum Wurln braucht es hier keine TouristInnen. Es ist ein sich selbst elektrisierendes Gemenge, das nicht wegen seiner babylonischen Sprachenvielfalt kein gemeinsames Wir-Gefühl entwickelt hat, sondern weil jeder Mensch vor dem Eis-Gott Tichy zweimal in ein Konkurrenzverhältnis tappt: zuerst zu den notorischen Ellenbogenbesitzern in der Warteschlange vor der Eisverkaufstheke, sodann zu den Mitbewerbern um freie Sitzgelegenheiten.

Franz Hessel definiert das Flanieren als eine Art «Lektüre der Stadt»: Die Stadt wird zum Text, der verschiedene Lesarten zulässt. Die Stadt ist für den Flaneur, die Flaneurin wie ein gut zu lesendes Buch und die Architektur wie dessen Buchstaben, die durch das Verhalten der Menschen lesbar gemacht und gerade durch diese einen lebhaften Charakter bekommen. Man kann solche urbanen Zeitgenossen auch durch das, was sie n i c h t sind, bestimmen. Edgar Allan Poe hat in seinem Werk «Der Mann der Menge» (The Man of the Crowd) den Typus des Anti-Flaneurs verewigt: «… er hielt in seinem Lauf nicht inne, sondern lenkte mit wahnsinniger Hartnäckigkeit seine Schritte wieder dem Herzen des mächtigen London zu. Rastlos und eilig floh er dahin (…) Er ging wie immer hin und zurück und verließ während des ganzen Tages nicht das Getümmel jener Straße. Und als die Schatten des zweiten Abends niedersanken, ward ich todmüde und stellte mich dem Wanderer kühn in den Weg und blickte ihm fest ins Antlitz. Er bemerkte mich nicht. Er nahm seinen traurigen Gang wieder auf, indes ich, von der Verfolgung abstehend, in Gedanken versunken zurückblieb. «Dieser alte Mann», sagte ich schließlich, «ist das Urbild und der Dämon des Triebes zum Verbrechen. Er kann nicht allein sein. Er ist der Mann der Menge».

Dem «Mann der Menge» im Sinn von Poe fehlt die Gelassenheit, das Laissez Faire, die «Schetzko jedno»-Haltung, wie man es im 10. Wiener Gemeindebezirk gelegentlich noch hört, um wirklich ein Flaneur zu sein. Walter Benjamin steuert noch ein Kennzeichen der Flanierenden bei: das Berauschtsein. An einer Stelle seines Passagenwerks schreibt er: Die Figur des Flaneurs. Er gleicht dem Haschischesser, nimmt den Raum in sich auf wie dieser. Im Haschischrausch beginnt der Raum uns anzublinzeln: «Nun, was mag denn in mir sich alles zugetragen haben?» Und mit der gleichen Frage macht der Raum an den Flanierenden sich heran.

Ich sitze also am Reumannplatz, lasse meine Augen ziellos herumschweifen, warte, bis der Raum selbst mich anblinzelt und etwas von mir wissen zu wollen scheint, fühle mich in eine Stadt am Balkan versetzt, erinnere mich aber gleich, dass die belebten Plätze der südosteuropäischen Städte sehr monokulturell im Vergleich zum Reumannplatz wirken. Mein klammheimlicher Applaus gilt den Gegensätzen, die den babylonischen Charakter des Platzes verstärken. Die Fittesten haben hier ihre Treffpunkte und die Unfittesten. Zu ersteren zählen die jungen Menschen mit türkischem oder ex-jugoslawischen «Hintergrund». Sie sammeln sich vor Mc Donalds oder bei der U 1-Station, im Begriffe, kollektiv ihre Partylaune zum Schwedenplatz oder zum Wiener Prater zu tragen. Sie sind die unbekümmerten Subjekte des Hineinschwappens der Vorstadt in die großbürgerliche City, begünstigt durch den Abbau sozialer Schwellen, für den die U1-Verbindung sorgte. Die anderen, die Unfittesten, belagern die beiden Würstelbuden mit geringem Interesse an Burenwurst und Käsekrainer. Ihr Ziel ist vielmehr die Bierdose, man weiß nie im vornhinein, wie sie sich vermehrt, denn es kann ja einer der Kumpel im Wettcafé nebenan gerade einen überraschenden Gewinn gemacht haben. Und wenn das so ist, weiß man im Vorhinein nie, wie spendierfreudig er heute ist. Wird er zwei Runden bezahlen? Oder sogar fünf? Wie um das Sprichwort «Nur in einem gesunden Körper weht ein gesunder Geist» zu widerlegen, spielen zwei Langzeitarbeitslose am Würstelstand Schach. Weil Schach nicht ausstirbt, ist auch in diesem Kreis der Subalternen jederzeit ein «Dritter» zur Stelle, der Ezzes austeilt.

Ihre Körper und die ihrer Kumpanen sind vom Alkohol, vom abgelagerten Staub der längst verjährten Maloche oder vom Straßenleben so ramponiert, dass man sich wundert, was sie stundenlang rund um den Kiosk aufrecht hält. Der Schmäh hält sie aufrecht, und der ist oft zum Weghören idiotisch, fast immer dann, wenn Frauen in der Burka vorbeieilen. «De Buaka is supa fia de schiachn Weiwa» zählt da noch zu den «toleranten» Kommentaren der «echten Favoritner». Die Chance, eine wandelnde Burka zu treffen, ist am Reumannplatz gefühlte fünfzigmal höher, als einem österreichischen Dirndlkleid zu begegnen.

Ich kenne in Wien keinen öffentlichen Raum, der atmender, greifbarer, reger, beseelter und unruhiger als der Reumannplatz bzw. der Fußgängerzone zwischen Kepler- und Reumannplatz wäre. Man muss vielleicht in die Vergangenheit zurückgehen, um vergleichbare urbane Vitalität zu finden. Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts bis in die 1930er Jahre zählte die Straßenecke Kärntnerring/ Kärntnerstraße zu den am meisten frequentierten Plätzen Wiens. Nach dem Inhaber eines Lederwarengeschäfts wurde dieser Kreuzungsbereich «Sirk-Ecke» genannt. In Karl Kraus´ Hauptwerk «Die letzten Tage der Menschheit» beginnen alle Akte mit Szenen vom Ringstraßenkorso an der Sirk-Ecke: Menschen unterschiedlicher Herkunft und vor allem Offiziere begegnen hier regelmäßig einander und kommentieren die neuesten Nachrichten aus dem Krieg. Spätestens mit dem autogerechten Umbau der Opernkreuzung 1955 ist der Korso verschwunden.

An der Sirk-Ecke traf die proletarische Vorstadt auf die großbürgerliche Innenstadt. Am Reumannplatz dagegen können die Vorstadt und ihre BewohnerInnen heute auf die Begegnung mit den stadtauswärts gekarrten InnenstädterInnen verzichten, weil sie ohnehin alle gemeinsam Mitglieder der Mittelschicht sind, wie sie es sich zurechtlügen. Und weil die Innenstadtschickeria sich ohnehin nie bis zum südlichen Ende der Fuzo Favoritenstraße vor traut. Umgekehrt funktioniert der Austausch nämlich nicht. Die vorlauten Enkel der Gastarbeiter eignen sich die innenstädtische Partyzone an, die sie mit der U-Bahn in zehn Minuten erreichen, während es umgekehrt viele Schnösel gibt, die noch nie am Reumannplatz waren, geschweige denn einen Platz weiter, am schattigen und kurioserweise schwach frequentierten Antonsplatz mit der monumentalen Antonskirche, die in ihrem historisierend byzantinischen Baustil eine Überraschung für alle ist, die das Gebäude zum ersten Mal sehen.

Wer noch nie am Reumannplatz war, kennt auch das Baujuwel des Platzes nicht, das Favoritner Amalienbad. Wenig wahrscheinlich ist, dass diese Ignoranz politische Hintergründe hat. Denn die Wertschätzung gegenüber dem «Roten Wien» der Zwischenkriegszeit, dem auch das 1926 fertig gestellte Amalienbad zuzurechnen ist, ist heute lagerübergreifend. Damals war das Gegenteil der Fall. Zitat aus www.dasrotewien.at: «Von konservativen Kreisen wurde das Amalienbad geradezu als Symbol der angefeindeten sozialdemokratischen Kommunalpolitik kritisiert. So schrieb die Reichspost, das Zentralorgan der Christlichsozialen Partei, am 17. September 1933: Die Gemeindeverwaltung trieb einen Luxusaufwand, der mit ihrem Vernichtungskrieg gegen allen Luxus in schreiendstem Widerspruch stand [...] Auch Proletarier brauchen Bäder. Also baute man ihnen einen kostspieligen Badepalast, in dem sie sich gar nicht heimisch fühlen (…) 
Heute ist das Amalienbad wieder eine der schönsten Badeanstalten Europas. Besonders eindrucksvoll sind die eleganten Innenräume, etwa die Saunabereiche (Frauen und Männer saunieren bis auf wenige Ausnahmetage getrennt), einzigartig das runde Warmwasserbecken im Art-déco-Stil mit Mosaik auf dem Beckenboden, breiten Stufen und umgebenden Säulen.»

Willi Resetarits erinnerte sich in einer Talk-Sendung über seine Kindheit im 10. Bezirk: «Gacken am Gang, Ganzkörperwäsche im Amalienbad.» Das ist auch heute wieder die Devise von Armutsfamilien. Nur kommen diese nicht mehr aus dem südlichen Burgenland, wie die Resetarits-Geschwister, sondern aus dem ehemaligen Jugoslawien und aus Rumänien. Ihre Wohnverhältnisse sind im Schnitt schlechter als die der Mehrheitsbevölkerung. Für die Armen ist das Hallenbad sowohl der Badewannen- als auch der Mittelmeerurlaubsersatz. Entsprechend zusammengesetzt ist die BesucherInnenliste im Amalienbad. Als im Jahre 2011 das Online-Medium Wien-konkret das Publikum der städtischen Bäder in «ausländische, österreichische und nicht-österreichische Gäste» einteilte und das Mengenverhältnis von Aus- und Inländern zum Kriterium der «Angenehmheit» der Badbenützung erklärte, brach ein demokratisches Entrüstungsstürmchen aus. Die Einteilung in in- und ausländische, österreichische und nicht-österreichische Gäste wurde dabei als diskriminierend und ausgrenzend bezeichnet. Die Information, das Amalienbad werde «auch von Österreichern» benutzt, rufe genauso Klischees wach wie die Nachricht, das Publikum im Hietzingerbad und im Höpflerbad sei dagegen «sehr angenehm». Die Kehrseite dieses Urteils lautet, dass die Badenden in den anderen Anstalten nicht angenehm sind. Die Betreiber dieser «Bäderinformation« wollten die Frage nicht beantworten, welche Methode sie bei ihren Ermittlungen anwandten. Wurden beim Eintritt ins Bad Personalausweise, Staatsbürgerschaftsnachweise und Reisepässe kontrolliert?

Der Flaneur / die Flaneurin nimmt solche Nachrichten auf, weil er sie in Beziehung setzen kann zu Beobachtungen, die er während seiner ziellosen Spaziergänge anstellt. Wenn ein typischer Flaneur auf einer Bank am Reumannplatz sitzt, und wenn er zwei Frauen auf der Nebenbank eine für ihn wohlklingende, aber nirgends zuordenbare Sprache sprechen hört, wird er die Frauen fragen: Was ist das für eine schöne Sprache? Und eine der Frauen antwortet: «Wir sprechen aramäisch. Es gibt etwa 400 aramäische Familien in Wien, glaube ich.» Und der Flaneur wird fragen: Ist das nicht die Sprache von … Und die Frau wird ihn unterbrechen, als ob sie die Frage, schon hundertmal gehört, auch aus dem Munde des Flaneurs schon kommen sieht: «Ja, es ist die Sprache von IHM!». Und der Flaneur – so geht er bei der Lektüre der Stadt vor – wird diese aufgeweckte Frau, die eine selten gewordene Sprache spricht, nämlich die Sprache von Jesus, gedanklich in das Amalienbad hinein versetzen. Der typische Flaneur wird – gelassen, wie er ist – keinen Farbbeutel in das Büro der «Bäderinformation« schmeißen. Vielleicht ist das eine seiner Schwächen.

Robert Sommer


INFO-BOX

Amalienbad:
http://de.wikipedia.org/wiki/Amalienbad

www.wien.gv.at/freizeit/baeder/uebersicht/hallenbaeder/amalienbad.html

Eissalon Tichy:
http://www.gastroweb.at/tichy-eis/

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11  Friedhof der Namenlosen

Schmächtige und Stämmige trieben ans Ufer

Paradox: Aus der unermüdlichen Textfabrik des Verlegers und Publizisten Gerald Grassl wird e i n Simmeringer Titel nach dem anderen auf den Buchmarkt geworfen. Aber nach der Schließung des Buchladens «Freudensprung» besitzt der 11. Bezirk, immerhin eine 100.000-Einwohnerstadt, keine Buchhandlung mehr, die die mit Simmeringer Geschichten gefüllten Bände ins Schaufenster stellen könnte.

So viele Bücher für so wenig Lesende? Der Widerspruch hat Methode. Grassl hätte mit seiner grundsätzlichen und leidenschaftlichen Parteilichkeit für Opfer keinen anderen Bezirk Wiens finden können, der wie Simmering unter dem Mythos der Gewalt, dem Stigma der Bedeutungs- und Gesichtslosigkeit leidet, der fast flächendeckend eine Konglomeration von Unorten darstellt und dessen Alpha & Omega zwei Friedhöfe spielen, der kleinste und der größte in Wien. So liebevoll diese Totenstädte in der von Grassl ausgewählten Literatur beschrieben werden (Beispiele: Theodor Kramer über den Friedhof der Namenlosen, Franz Werfel über den Zentralfriedhof), so schwer fällt es manchmal den Schöpferischen, Liebenswertes in der Stadt dazwischen auszumachen, die nicht viel mehr ist als die ungeraden und die geraden Nummern entlang der Simmeringer Hauptstraße.

Selbst Simmering-Fan Gerald Grassl nahm sie zunächst als hässlichste aller Hauptstraßen Wiens wahr. Offensichtlich ist vor einem Jahrhundert nicht viel besser über sie gedacht worden. «Die Simmeringer Hauptstraße ist die traurigste Straße Wiens», meint Alfred Polgar – klar, sie beginnt ja mit einer Kaserne und endet am Zentralfriedhof. «Sie ist lang, entsetzlich lang. So lang wie eine schlaflose Nacht. So lang wie das vergebliche Warten auf einen geliebten Menschen. So lang wie die Zeremonien vorm Galgen. Die Simmeringer Hauptstraße hört nicht auf. Sie ist eine chronische Straße. Sie ist der ausgezogene, langgestreckte Darm der Stadt. Wenn der Wiener Fäkalie geworden ist, muss er durch.»

Die Simmering-Bände – drei von voraussichtlich sechs sind erschienen – sind Produkte der «edition tarantel», und diese wiederum ist ein Projekt des von Gerald Grassl geleiteten Vereins «Werkkreis Literatur der Arbeitswelt». Mangels Buchhandlungen – und laut Grassl auch wegen des «enttäuschenden Interesses der Bezirksvertretung und des Bezirksmuseums» – finden sie nicht die optimale Verbreitung im Bezirk. Herausgeber Gerald Grassl legt Wert auf die Feststellung, dass sein Projekt keinen wissenschaftlichen Anspruch erhebe: «Ich glaube eine gewisse Skepsis der historischen Zunft gegenüber meinem Buchprojekt zu verspüren. Aber ich habe immer gesagt, ich bin kein Historiker, sondern ein unsystematischer Sammler von Märchen, Sagen und Geschichten.» Der Inhalt der ersten drei Bände ist eine wilde Mischung von Grassls Gesprächen und Interviews mit Personen aus dem Grätzl, historischen Dokumenten (vieles davon aus dem Schatz des 2009 verstorbenen Historikers Herbert Exenberger und einiges aus dem Bezirksmuseum), Sagen mit Simmering-Bezug und Stellen aus der Literatur, in denen Grassl ebenfalls Bezüge zum elften Wiener Gemeindebezirk fand. Diese Bezüge erschlossen sich oft erst nach geradezu detektivischer Arbeit. LiebhaberInnen drastischer Formulierungen könnte man den bezirksfremden – aus Tirol stammenden und in der Leopoldstadt wohnenden – Sammler als eine Art Rächer erniedrigter Orte empfehlen: Man hat in jedem Abschnitt der drei Bände das Gefühl, als würde Grassl versuchen, einem Bezirk Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, der zu Unrecht von schlechtestem Image gebeutelt ist.

So sehr der Bezirk insgesamt (nicht von Grassl!) schlechtgeredet wird, so liebevoll werden die beiden ungleichen Friedhöfe des 11. Bezirks behandelt – der Zentralfriedhof mit seinen 330.000 Grabstellen und der Friedhof der Namenlosen mit seinen ungefähr 500 Toten. In das Wien-Image, das von der Stadt-PR gepflegt wird, sind diese beiden «Gottesäcker» stark integriert – auch die gut gebildeten Mittelschichten Chinas, Taiwans und Südkoreas fragen sich zu den Friedhöfen durch, wenn sie der Stadt der «schönen Leichen» einen Besuch abstatten. Ein gut gebildeter deutscher Tourist wollte mir weiß machen, dass man in Deutschland die Pointe folgenden Bonmots nicht ganz verstehe – Sagt einer: «Weißt, wer g'storben is'?» Antwortet der andere: «Mir is' jeder recht.» Klischees kann man ja bekämpfen, wo immer man auf sie stößt; möglicherweise zählt die Aussage, nirgends sonst würde man so lachen über das zitierte Bonmot als in Wien, ebenfalls zu diesem Klischee vom besonderen Verhältnis der WienerInnen zum Tod. Wer über solche vermeintliche Ressentiments schmunzelt, gerät aber leicht in einen Erklärungsnotstand, weil er ja Orte wie den Friedhof der Namenlosen nicht befreien kann von ihrer Funktion, so etwas wie Wiener Identität zu stiften. Er taucht in Filmen auf, wie in «Angeschwemmt» von Nikolaus Geyrhalter oder in einem amerikanischen Film, der Mitte der 90er Jahre in Wien gedreht wurde. Der kleine, mystische Friedhof war einer der Schauplätze. «Before Sunrise» hieß die Liebesgeschichte um einen Amerikaner und eine Französin; sie spazieren durch die Gräberreihen, an die sich die junge Frau erinnert. Sie war schon einmal hier, als Kind, und damals habe sie dieser Friedhof «mehr beeindruckt als jedes Museum, in dem wir waren.». Er taucht auch im Kabarett auf (Gröll&Groebner: «Am Alberner Hafen wirst du deine Sorgen los») – und in der Literatur sowieso. Bei folgendem Gedicht von H. C. Artmann muss man Nicht-WienerInnen zumindest das Wort «oewan» erklären. Es ist die Artmannsche Schreibweise von Albern, dem ehemaligen Fischerort, heute jener Teil des 11. Wiener Gemeindebezirks, in dem der Friedhof der Namenlosen zu finden ist.

dod en wossa
waun s me aussezan
waun s me aussezan
aus da donau
untan wintahofm
bei oewan . . .


Dem österreichischen Dichter Theodor Kramer ist der Mythos des Friedhofs auch nicht entgangen:

Wo sich der Strom von der Stadt in die Ebene kehrt
und sie die Straße, mit Pappeln bestanden, durchquert,
sieht aus der Senke der ärmliche Friedhof hervor;
grau ist die niedrige Mauer, verrostet das Tor.

Grau sind die Holzkreuze, die auf den Grabhügeln stehn,
keinerlei Inschriften sind in den Reihen zu sehn;
wie sie das Wasser an Land warf und wie man sie traf,
schlafen sie namenlos alle den ewigen Schlaf.

Schmächtige trieben ans Ufer und Stämmige auch,
wächserne Mädchen und Frauen mit schwangerem Bauch;
was war ihr Trachten, wer stützte, was trieb sie und wer?
Sei´s wie es sei, sie bedrängte das Leben zu sehr.

Schartiges Gras, wie es kieslig am Strom vieles gibt,
den sie einst suchten und der sie im Tode noch liebt,
ziert ihre dürftigen Gräber beständig und rau;
heiser nur grüßt sie ein Kormoranschrei aus der Au.

Einmal vielleicht hält ein Bauer und spricht ein Gebet,
eh er den Pflug wendet. Über die Gräberreihn weht
kühl es vom Strom her; für viele ist Platz noch, und matt
schimmert die Flut, die sie anschwemmt, und drüben die Stadt.

Eine der poetischen Hommagen an den Friedhof findet man am Ort selbst: ein Gedicht des Grafen Wickenburg:
Tief im Schatten alter Rüstern,
Starren Kreuze hier am düstern
Uferrand.

Aber keine Epitaphe,
Sage uns wer unten schlafe.
Kühl im Sand.

Still ist's in den weiten Augen.
Selbst die Donau ihre blauen
Wogen hemmt.

Denn sie schlafen hier gemeinsam,
Die, die Fluten still und einsam,
Angeschwemmt.

Alle die sich hier gesellen,
Trieb Verzweiflung in der Wellen
Kalten Schoß.

Drum die Kreuze die da ragen,
Wie das Kreuz das sie getragen,
«Namenlos».

In diesen Klub der Friedhofsdichter wollte ich mich auch selber hineinreklamieren, indem ich zur Melodie des Frank Sinatra-Klassikers «Strangers in the night» Wienerische Reime verfasste, die an das Alberner Original, den Friedhofswärter Josef Fuchs erinnern sollten. Er kümmerte sich um Leichen anonymer Selbstmörder, um die sich die katholische Kirche lange Zeit nicht sorgte, weil für sie der Freitod eine der größten Sünden ist. Der alte Fuchs, der letzte Totengräber Alberns, kümmerte sich auch nach seiner Pensionierung noch um die Gräber, bis er im Frühling 1996 im Alter von 90 Jahren starb; sein Sohn setzt ehrenamtlich die Pflegearbeit fort. Fairer Weise sollte erwähnt werden, dass MusikerInnnen, denen ich meinen Friedhof-der-Namenlosen-Song anbot, nicht viel von der Singbarkeit dieser Neuvertextung des Sinatra-Ohrwurms hielten.

augschwemmd in da nochd / aum dog vo mia (r) aus
augschwemmd wiara woi / weid weg vom wiaddshaus
augschwemmd ohne naum / und ohne firaschein

hosd an obgaung draad / an debbrimiaddn
hosd an seavas gmochd / kan moddiwiaddn '
hod die donau gloggd / komm doch zu mir herein

haamdraad hosd du di / gaunz söwa haamdraad sogd a
haamdraad hosd du di / da pfoff is granddig, denn weu
wer si beulisiert / kummd ned in zenträu
derf ned in an hoizpidschama
derf ned zu de aundan baana

oida friedhofs-fuchs / da pfoff soi redn
wer de bodschn schdreggd / der griagd an segn
bebbal hod a heaz / fia jede leich a gruam

wea an obgaung mochd / weu er den trend kennd
wea ins wossa gehd / dass er ned midrennd
wea ned foisch sei kau / in dera foischn wöd

haamdrann kauna si / gaunz söwa haamdrahn
und a keazzn griagd a gschdifd, de kummd vom heazzn, nämlich
wer si beulisiad / sogd da bebbi fuchs
hod in oiban bleiberecht
hoizpidschamaschlafgerecht...


Der Friedhof der Namenlosen befindet sich beim Alberner Hafen, dort wo das Auwald- und Wiesengebiet an den Hafen grenzt. Er ist nur durch das wenig malerische Areal des Hafens zugänglich. Hier sind Menschen begraben, die im Zeitraum von 1845 bis 1940 im Hafenbereich von der Donau angeschwemmt worden sind. Von vielen weiß man weder den Namen, noch wie sie gestorben sind. Bei anderen wurde die Identität nachträglich geklärt. Durch einen Wasserstrudel der Donau wurden an dieser Uferstelle – mit anderem Treibgut – immer wieder auch Wasserleichen angeschwemmt. Nach offiziellen Quellen fand die letzte Beerdigung im Jahr 1940 statt. Der stillgelegte Friedhof der Namenlosen wird heute vom Hafen Wien sowie der Stadt Wien erhalten.

Der erste Sonntag nach Allerheiligen ist ein gutes Datum für einen Friedhofsbesuch. Am Nachmittag dieses Tages versammeln sich die Mitglieder des Fischervereins Albern, um ein von ihnen gebautes Floß, geschmückt mit Kränzen, Blumen und brennenden Kerzen, zu Wasser zu lassen. Auf dem Floß befindet sich ein symbolischer Grabstein mit der Inschrift «Den Opfern der Donau» und der in den Sprachen Deutsch, Tschechisch und Ungarisch verfassten Bitte, das Floß, wenn es am Ufer hängen bleiben sollte, einfach weiterzustoßen. Der Prozessionszug zieht zum Ufer der Donau hinunter, begleitet von einer Musikkapelle. Mit einer Holzzille bringen die Fischer das Floß in die Mitte des Stroms, um es zum Gedenken an die anonymen Opfer des Donaustroms den Fluten zu übergeben. Ob es eines der Flöße ins Schwarze Meer geschafft hat, konnte nicht eruiert werden.

Robert Sommer



INFO-BOX

Gerald Grassl:
„Von Albern bis Zentral. Sagen und Geschichten Simmerings“
Band 1, edition tarantel.
Bezugsquellen: Bestellung beim Autor unter
tarantel-wien@gmx.at,
oder in der Buchhandlung Laaber
1030 Wien, Landstraßer Hauptstr. 33
http://www.buchlaaber.at/

Zentralfriedhof:
http://de.wikipedia.org/wiki/Wiener_Zentralfriedhof
http://www.wien-konkret.at/soziales/friedhof/zentralfriedhof/

Friedhof der Namenlosen:
http://friedhof-der-namenlosen.at/

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12  Am Schöpfwerk

Aus dem Tratsch wird Widerstand

Dass Roland Düringer nicht weniger als acht Rollen spielt – nämlich Opa Neugebauer, einen Drogeriemarktkunden, einen Briefträger, einen Nachbarburschen, einen Pfarrer, einen Nachbarn mittleren Alters, eine ältere Nachbarsfrau und einen Radfahrer – ist die genialste Personal-Idee im Harald Sicheritz-Film «Muttertag». Das finden auch die Bewohner der Wiener städtischen Wohnhausanlage, in die Sicheritz seine Erzählung gesetzt hat. Die schlechteste Idee aber sei, dass der Film in ihrer Siedlung spiele. Das verstärke die bestehenden Ressentiments gegenüber der städtischen Wohnanlage «Am Schöpfwerk» im 12. Bezirk.

Ressentiments und schablonenhafte Schnellurteile über die 1980 fertig gestellte neue Wohnanlage, in der heute mehr als 5000 Menschen leben, gibt es tatsächlich. Das festzustellen, läuft auf eine Gleichgültigkeit gegenüber der Entwicklungsrichtung hinaus. Nicht, dass es viele Anzeigen wegen «Vandalismus» gibt, ist eine relevante qualitative Aussage, sondern dass es heute innerhalb der Meidlinger Wohnanlage «Am Schöpfwerk» bedeutend weniger Anzeigen gibt als vor 20 Jahren. «Das erklärt auch, warum wir von Polizisten unter vorgehaltener Hand erfahren, dass das  Schöpfwerk als sehr angenehmes Einsatz-Revier gilt», sagt Wolfgang Starzinger, einer der fünf SozialarbeiterInnen der «bassena», dem abgerundeten und in Wien in seiner BürgerInnen-Vernetzungskompetenz unübertroffenen Stadtteilzentrum.

An dieser Stelle ein kleiner Exkurs über die Wissensmaschine und das Maß an Vertrauen, das sie verdient. Wikipedia informiert wie folgt über die Wohnanlage «Am Schöpfwerk»: Sie gelte heute «im Gegensatz zur nahe gelegenen und 5 Jahre später vollendeten Anlage Wohnpark Alt-Erlaa als Negativbeispiel für die Wiener Stadtentwicklung der 70er und 80er Jahre. Einige Aufsehen erregende Verbrechen brachten der Siedlung negative Schlagzeilen ein. Das durch einige Medien transportierte Bild eines Ghettos mit erhöhter Kriminalitätsrate und in Wien kaum vorhandenem Bandenunwesen lässt sich durch Kriminalstatistiken nicht belegen. Vandalismus, Generationenkonflikte, Spannungen zwischen Zuwanderern und Einheimischen, eine erhöhte Arbeitslosenrate sowie Abhängigkeit vieler Bewohner von staatlicher Unterstützung komplettieren das negative Image der Siedlung. Der Film ‚Muttertag’ von Harald Sicheritz aus dem Jahr 1992, der in der Wohnsiedlung spielt, transportierte gleichfalls den schlechten Ruf der Anlage.»

Nicht, dass es Konflikte gibt, ist hier falsch. Dass die «Stadt in der Stadt» auch heute noch als «Negativbeispiel für die Stadtentwicklung» gilt, ist falsch. Sehr falsch sogar, denn die Intensität, in der hier – von der «bassena» ausgehend – BewohnerInnen begonnen haben, ihre eigenen Angelegenheiten nicht den bürokratischen Strukturen von  «Wiener Wohnen» zu überlassen, sondern sich in den verschiedensten Arbeitsgruppen selbst zu organisieren, hat das Klima in der Siedlung spürbar verbessert. Wenn es nicht so wäre, müsste der Ansturm von Gemeinwesenarbeitenden aus dem In- und Ausland, die sich hier Ezzes holen, oder die Inflation von  studentischen Arbeiten über das Partizipationsmodell Schöpfwerk etwas seltsam erscheinen.

Eine der spannendsten Zusammenschlüsse der jüngsten Zeit ist die «Dorfplatzgruppe», erzählt mir Tamara Strobl, die als Trafikantin vom Schöpfwerk eine Art Reservoir des gesammelten Tratsches ist und die die Lust bewahrt hat, jene Informationen herauszufiltern, die sich als Ansatzpunkte für BürgerInnenwiderstand eignen. Mit dieser Rolle sei sie zu einer Art  Außenstelle der «bassena» geworden, schmunzelt sie. Dass die Schule, die am zentralen Platz der Siedlung liegt (von den BewohnerInnen «Dorfplatz» genannt), einen «Sicherheitszaun» errichtete, durch den der Bewohnerschaft ein Teil des öffentlichen Raums überfallsartig gestohlen wurde, war der Anlass zur Gründung der Arbeitsgruppe. Mit der angeblich fehlenden Sicherheit für die SchülerInnen hatte die Schuldirektorin diesen Zaun legitimiert. «Es gibt Brandanschläge, Scherben, Spritzen, Kampfhunde», befriedigte die Direktorin die Sensationslust der Boulevardmedien. «Die Schulwände sind als Pissoir verwendet worden.» Der Zaun solle endlich Abhilfe schaffen.

«Wir haben noch nie Kampfhunde gesehen, und ich habe noch nie Angst gehabt, wenn ich um zwei Uhr früh durchs Schöpfwerk gehe», konterte eine Lehrerin, die in der «Dorfplatzgruppe» aktiv wurde. Ein Brief an den Bürgermeister war die erste Reaktion. Der Zaun steht heute noch und trennt den «Dorfplatz» in zwei Teile. Wenn das Netzwerk rund um die «bassena» aber das Schöpfwerkfest feiert – es findet  in der Regel im Juni statt und füllt die Wohnanlage antizipatorisch mit Leben, wie es sich die AktivistInnen als Alltagszustand wünschen –, ist die Schuldirektion bereit, den Zaun am «Dorfplatz» temporär zu öffnen. Tamara Strobl schließt daraus: Selbst wenn die Engagierten rund um die «bassena» scheitern, scheitern sie nicht hundertprozentig...

In anderen Angelegenheiten erwies sich der BewohnerInnenwiderstand als erfolgreicher. Als «Wiener Wohnen» der grassierenden Unsicherheitsphobie mit einem System der Videoüberwachung des Schöpfwerkes begegnen wollte, wurden die Siedlungsverwalter von einer Kritik von unten überrascht: Videoüberwachung sei teuer und uneffektiv. Die Bürokratie nahm den Widerstand wahr und blies das Kontrollvorhaben hab. Und als die Schöpfwerker vernahmen, dass die Post geschlossen werden soll, zitierten sie Manager dieser Institution und PolitikerInnen in ihre Siedlung. Teilerfolg: Die Post erklärte sich bereit, mit einem Privatunternehmer zu kooperieren, der die Postdienste weiterhin anbietet.

Ganz oben in der Forderungsliste der aktiven SchöpfwerkerInnen steht derzeit die Belebung der Einkaufszeile. Mittlerweile stehen fünf Lokale leer, eine unerquickliche Situation, die eine eigene negative Dynamik auslösen kann: Die Zeile ist so unattraktiv, dass auch die bestehenden Nutzungen gefährdet sind. Die Trafikantin Tamara Strobl hat, gemeinsam mit anderen Engagierten, den Kampf um das Mitspracherecht der BewohnerInnen in Sachen Zwischennutzung aufgenommen. «Es gibt Leute, die eine gemeinsame Reparaturwerkstätte einrichten wollen. Theaterensembles suchen Proberäume, FotografInnen und MalerInnen brauchen Ateliers. Ist es nicht die Aufgabe von ’Wiener Wohnen’, für optimale Lebensqualität in ihren Siedlungen zu sorgen? Aber das städtische Wohnhäusermanagement reagiert mit Abwehrreflexen, wie man sie von einer x-beliebigen Bürokratie gewohnt ist, die Demokratie als Störung empfindet. Die beiden Reflexe heißen: Wie bringt man die Zwischennutzer wieder los? Und: da könnte ja jeder kommen!», ärgert sich die Trafikantin. Ein weiteres Anliegen der Bevölkerung: die Rasenflächen in den Höfen sollen für Gemeinschaftsgarten-Experimente freigegeben werden. Die Gardening-Lobby unter den SchöpfwerkerInnen sieht auch  nicht ein, warum alle möglichen Arten von Bäumen gepflanzt worden sind, bloß keine Obstbäume. Die Erklärung von «Wiener Wohnen»: Obstbäume ziehen Bienen an. Und Bienen sind eine Gefahr für Kinder. «Man glaubt es kaum», kommentiert «bassena»-Sozialarbeiter Starzinger. Fast rührend, wie sich die Bürokratie – Bienensterben hin, Altobstsortenschwund her – um die Sicherheit der  Kinder bemüht.

Dass in der Wohnanlage zum Unterschied von Stadtrandsiedlungen wie Rennbahnweg eine zivile Gesellschaft erwacht ist, die diesen Namen verdient, erkennen aufmerksame BeobachterInnen schon in der U6-Station «Am Schöpfwek». Eine der Gewista-Werbeplakatflächen ist hier nämlich von kommerzieller Bespielung befreit und dient als «Freianschlag», wie über der Werbefläche zu lesen ist. Mitteilungen des regionalen Tauchkreises KAESCH sind hier genauso zu finden wie die Sprachkurstermine der Initiative «Mama lernt Deutsch», die Termine des multikulturellen Vereins «Nachbarinnen», die in regelmäßigen «Bildungsfrühstücken» pädagogisches Wissen unter die Elternschaft des Schöpfwerks verstreut, oder die Infos der Mietervertretung. Die verzopften Verwaltungssprachschöpfer haben mit der Kreation «Freianschlag» – ungewollt – sprachlich ins Schwarze getroffen. Die Ankündigungsfläche, die den aktiven BewohnerInnengruppen gratis zur Verfügung steht, ist ein Freiheitssignal, und als solches ein Anschlag auf die Routine der Begünstigung kommerzieller vor gemeinschaftlichen Interessen.

Eines fehlt noch auf dem «Freianschlag». Die Ankündigung eines Vortrags über Bienensterben. Zielgruppe: MitarbeiterInnen von «Wiener Wohnen».

Robert Sommer


INFO-BOX

Stadtteilzentrum bassena:
http://www.bassena.at/site/home

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13  Die Werkbundsiedlung

Vom Wohnen im Denkmal

Die Sanierung eines Baujuwels erster Klasse, der 1932 fertig gestellten Werkbundsiedlung im 13. Bezirk, soll 2016 abgeschlossen sein. Was bedeutet: Derzeit eine Flanerie durch die rote Musterwohnanlage unter dem «Roten Berg» zu empfehlen, ist ein gewagtes Unternehmen, denn im Moment könnte man dort vor allem lernen, wie man Baustellen optimal absichert. Andererseits: Auch die BewohnerInnen müssen den Baustellenlärm bis 2016, bis zur Entfernung des letzten Baugerüstes, genießen. Warum soll man den nach innovativer Architektur suchenden Fremden nicht zutrauen, dass sie sich die Baugerüste einfach wegdenken? Übrigens, wenn der Sanierungstrupp seine Baustelle wirklich so fein abgesichert hätte, wäre ich nicht, von der Woinovichgasse ausgehend, einem Weg gefolgt, der in ein Nichts zu führen schien, jedoch weder durch ein «Privateigentum! Durchgang verboten!”-Taferl  noch durch ein Baustellen-Betretungs-Verbot abgesperrt wurde. Ich folgte also diesem vermeintlich öffentlichen Pfad, auf neue architektonische AHA-Erlebnisse konditioniert, und bereitete einer Dame ein Aha-Erlebnis der unangenehmen Art. Sich in der Sonne räkelnd, lag sie in ihrem privaten Gartenbereich, und weil sie sich gerade überhaupt nicht als ein lebendiges Exponat einer Ausstellung fühlen wollte, kam sie mir mit dem Imperativ des Privateigentums: «Was machen Sie hier? Verlassen Sie bitte sofort das Gelände!». Ich entschuldigte mich für das unbeabsichtigte Störmanöver, fügte aber hinzu, dass sie sich ja denken könne, dass ich ein Erforscher der Werkbund-Anlage sei. Sie aber wiederholte nur: «Sie verlassen bitte jetzt sofort das Gelände!»

Das Verhalten der Frau gegenüber dem Eindringling in intime Bereiche störte mich nicht. Ihr Verhalten  war aber zum Teil eine Antwort auf die Frage, die ich ihr gestellt hätte, wenn ich sie an der Bushaltestelle getroffen hätte: Ist den Menschen die hier wohnen, bewusst, dass sie eine Ausstellung bewohnen, dass ihre Behausungen Exponate sind, über die es in der ganzen Welt Fachliteratur gibt und die Bewunderer aus ganz Europa anlocken? «Vielleicht hätte ich genauso reagiert wie diese Frau, wenn  plötzlich ein Mann mit einer Fotokamera vor mir gestanden wäre», schmunzelt Susanne Kompast, eine bildende Künstlerin, die hier seit 2008 wohnt und arbeitet. Sie habe noch wenig von einem Stolz der SiedlerInnen wahrnehmen können, wenig von einem Bewusstsein, eine Vorzeigeanlage zu bewohnen, wenig auch von einem «Wir-Gefühl» der WerkbundsiedlerInnen. «Derzeit meckern sie natürlich über die Sanierungsarbeiten. Und wenn sie gerade nicht darüber jammern, regen sie sich über bestimmte Männer in meiner Gasse auf, die beim Kartenspielen vor dem Haus zu lange zu laut kommunizierten. Der Umstand, dass die Leute hier in einer Stätte des kulturellen Welterbes wohnen, trägt nicht zu ihrem Glück bei. In gewisser Weise bringt ja der Status der Wohnanlage als Manifest der österreichischen Moderne, als Denkmal, als Geheimtipp aller architektonisch Interessierten, als Kulturgut usw. nur Nachteile für die MieterInnen. Sie haben viel strengere Auflagen als Menschen, die nicht in Denkmälern wohnen. Sie dürfen keine Satelliten-Schüssel anbringen, Balkone dürfen nicht durch Sichtschutzvorrichtungen entstellt werden und die Höhe der Hecken in den privaten Gärten hinter den Häusern ist vorgegeben.»

In ihrem Aufsatz über die «Denkmalwerdung» der Siedlung schreibt Anita Aigner im Ausstellungskatalog des WienMuseums: «Den Bewohnerinnen und Bewohnern, denen der architektonische Fachdiskurs keinerlei Beachtung schenkt, hatte die lang ersehnte Sanierung oft schmerzlich bewusst gemacht, was es heißt, in einem Denkmal zu leben. Es bedeutete für viele: Auslöschung persönlicher, für nützlich und/oder schön erachteter Adaptierungen. Und es bedeutet bis heute: absolute Unantastbarkeit der Gebäudehülle, ästhetische Kontrolle ...» Die BewohnerInnen hätten zwar gelernt, mit den ArchitekturtouristInnen umzugehen, viele seien sogar bereit, Interessierten Einlass zu gewähren, dennoch generierten die kulturellen Differenzen in der Bewohnerschaft immer wieder Konflikte: Eine Minderheit der «kultivierten» BewohnerInnen stehe ganz hinter dem Denkmalschutz und verlange auch von den anderen den «richtigen» Umgang mit den Objekten. Die Neobewohnerin Susanne Kompast müsste man wohl Anita Aigners Kategorie der «Kultivierten» zuteilen: die Malerin macht sich Gedanken, wie sie die Gnade, in einer Ausstellung weltberühmter Baukunst zu wohnen, integrieren kann in ihre künstlerische Selbstdarstellung, wie sie der Präsentation ihrer Werke Flair hinzufügt durch die Betonung des Ortes der Präsentation. Es ist die enge, aber dreigeschossige Wohnung im Reihenhausblock des Utrechter Architekten Gerrit Rietveld, der die Prinzipien der niederländischen Künstlervereinigung «De Stijl» nach Wien-Hietzing verpflanzte.

Eine ausgezeichnete Website – www.werkbundsiedlung-wien.at – und der wunderbare Ausstellungskatalog des WienMuseums bringen uns Geschichte und Intention der Werkbundsiedlung näher, daher im Folgenden eine sehr geraffte Chronologie. Die Wiener Werkbundsiedlung ist Teil einer Reihe von internationalen Bauausstellungen, die ihren Anfang in der 1927 errichteten Stuttgarter Siedlung am Weißenhof fand. Die von den Werkbundvereinigungen der einzelnen Länder errichteten Mustersiedlungen dienten als Sprachrohre des Neuen Bauens, das sich um das Interieur genauso kümmerte wie um die äußeren Formen des Wohnbaus. Der Österreichische Werkbund war im Jahr 1912 nach deutschem Vorbild gegründet worden und hatte sich die «Veredelung» der Warenwelt zum Ziel gesetzt. Er trachtete danach, dass auch dem «Unbemittelten, dem Kleinbürger und Arbeiter, wenn auch in sehr bescheidenden Grenzen […] nur solche Produkte geboten werden, die durch ihre Werktüchtigkeit erfreuen und die Wohnkultur fördern».

Die Internationale Werkbundsiedlung im 13. Wiener Gemeindebezirk wurde in den Jahren 1930–1932 errichtet und zählt zur Avantgarde der Architektur in  Österreich. Initiator und künstlerischer Leiter war der Architekt Josef Frank, der nach der Eröffnung der Wiener Werkbundsiedlung nur noch zwei Jahre in Österreich bleiben sollte. Er flüchtete 1934 vor dem Austrofaschismus nach Schweden. Die Siedlung umfasste insgesamt 70 kleine Einfamilienhäuser im Grünen, für deren Entwurf 33 ArchitektInnen verantwortlich zeichneten, darunter auch Adolf Loos und Margarete Schütte-Lihotzky.  Die Kleinhäuser der Siedlung in freistehender, gekoppelter bzw. zeilenförmiger Verbauung sollten die Vielfalt an unterschiedlichen Reihen- und Typenhäusern präsentieren und als mögliche Vorbilder für Grundtypen neuer Siedlungen dienen. Die vollständig eingerichteten Musterhäuser waren zum Verkauf bestimmt und konnten im Rahmen der «Internationalen Werkbundausstellung Wien» vom 5. Juni bis 7. August 1932 besichtigt werden. Die Ausstellung soll von mehr als 100.000 Interessierten besucht worden sein.

Die Ausstellung war ein Medien-Event. Darüber eine Passage aus www.werkbundsiedlung-wien.at:

Österreichs Zeitungen – vorneweg die Arbeiterzeitung – berichteten während des Sommers regelmäßig über Pro und Contra der „größten Bauausstellung Europas“. Für die Einen war die 70 Häuser umfassende Siedlung mit den Typenhäusern zu teuer, die einzelnen Häuser waren viel zu klein, in ihrer äußeren Erscheinung zu modern und die Grundrisslösungen verfehlt, während die andere Seite in ihr die Zukunft des modernen Kleinhausbaus und der modernen Wohnkultur sah. Polemisiert wurde, dass „in den meisten Kleinküchen weder der berühmte Wiener Apfelstrudel erzeugt werden kann noch aber jemand, der sich von Strudel ernährt, die Dimensionen hat, in so einer Küche zu arbeiten oder gar die Kellertreppe zu benützen“, an anderer Stelle wurden die Häuser als „Siedlungsbauten für Zwerge“ bezeichnet. Alles in allem aber überwog sowohl in der heimischen als auch der ausländischen Presse die positive Kritik. Die Arbeiterzeitung bezeichnete am Tag der Eröffnung die Siedlung als  „ein beispielgebendes Architekturmuseum, ohne auch nur im geringsten so zu erscheinen. Sie ist lebendigste Lebendigkeit“, und auch in der Neuen Freien Presse fand die Musterschau große Anerkennung: Die Kritiken reichten von „erstaunlich ausdrucksfähig und abwechslungsreich ist der neue Stil“ bis zur Bestätigung, dass die Häuser „nicht nur den Ideenreichtum der besten Architekten des In- und Auslands“ zeigen, sondern auch „dass man innerhalb bescheidener Ausmaße ein behagliches Leben führen kann, wenn auf beste Raumausnützung Bedacht genommen“ wird. Im Sinne Josef Franks hat es mit Sicherheit Max Eisler auf den Punkt gebracht, wenn er über die Werkbundsiedlung schreibt: „Denn es geht ja hier nicht um eine beliebige, mehr oder minder interessante Ausstellung, sondern um eine Lebensfrage unserer Kultur“.

Die Geschichte der Werkbundsiedlung ist für mich ein Beispiel für die Qualität der Beziehungen zwischen der Arbeiterbewegung und der intellektuellen Avantgarde des Landes. Eine entsprechende Liaison zwischen Macht und Geist (bzw. zwischen Politik und Geist) hat es nach der Niederlage der Linken im Jahr 1934 in Österreich nie mehr wieder gegeben. Nicht nur die führenden querdenkenden ArchitektInnen hatten ein Naheverhältnis zur den Sozialdemokraten. Während große Teile der Universität immer mehr einem irrationalen völkischen Mystizismus verfielen, blühte das sozialistische Volksbildungswesen auf, in dem Intellektuelle wie Wilhelm Reich, Anton Webern, Alfred Adler, Otto Neurath, Siegfried Bernfeld und viele andere auf eine begeisterte Zuhörerschaft stießen. «Heute scheint die Sozialdemokratie die Herausforderung, mit Intellektuellen umzugehen, an eine einzige Person delegiert zu haben: den Wissenschaftsreferenten der Gemeinde Wien Hubert Christian Ehalt. Ohne ihn hätten die Intellektuellen keinen Ansprechpartner in der ‚Arbeiterbewegung’, wenn man die Sozialdemokratie noch so nennen darf«, ätzt Susanne Kompast. Übrigens werde sie Ehalt fragen, ob er ihr Projekt, aus dem Zusammenbringen ihrer Kunst mit der Innen- und Außenarchitektur des niederländischen Avantgardisten ein Gesamtkunstwerk zu schaffen, für subventionswürdig halte ...

Robert Sommer


INFO-BOX

Webseite zur Werkbundsiedlung:
www.werkbundsiedlung-wien.at

Ausstellungskatalog Wienmuseum:
„Werkbundsiedlung Wien 1932 –
Ein Manifest des neuen Wohnens“

Farb- und Schwarzweißabbildungen, broschierte Ausgabe, 304 Seiten, erschienen im Müry Salzmann Verlag
ISBN 978-3-99014-071-0

Adresse:
Veitingergasse - Jagdschloßgasse - Woinovichgasse

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14  Lemoniberg

Freier Blick auf Triest

Diese Geschichte handelt von einem Platz, der mehr Bezeichnungen hat als alle anderen Plätze in Wien. Wie sollten wir ihn in Zukunft nennen? Steinhof? Das ist ein Synonym für die alte Wegsperrungspsychiatrie mit ihren Elektroschocks und ihren versteckten Pharma-Tests. Ein fraglicher Name, umso mehr, als die alte Zwangspsychiatrie abgedankt hat; umso mehr, seitdem bekannt wurde, dass die Krankenhäuserverwaltung für die Zukunft keinen Bedarf mehr für diesen Standort sieht. Spiegelgrund? Dieser Name erinnert an die schlimmste Zeit des Steinhofs, als die von den Nazis fürchterlich missbrauchte Medizin hier «unwertes Leben» massenhaft zu Tode brachte. Baumgartner Höhe? Die WienerInnen assoziieren auf Anhieb «Spital»; der Begriff ist deshalb aus ähnlichen Gründen fraglich wie die Bezeichnung Steinhof. Otto-Wagner-Spital? Nachdem das rot-grüne Spitalskonzept die umstrittene Auflösung der traditionellen Krankenhäuser zugunsten von drei Mega-Spitalsburgen vorsieht (das dritte entsteht in Floridsdorf und stellt sich als ähnlich korruptionsanregend heraus wie anno dazumal das neue AKH), wird dieser Name bald nur noch historische Relevanz haben. Ich schlage vor: Nennen wir das Areal den Lemoniberg!

Es ist eine Wortkreation, die spontan im Volk auftauchte, nachdem das «Wahrzeichen» des Steinhofs errichtet war: Otto Wagners am höchsten Punkt des Spitalareals erbaute Kirche, eines der Hauptwerke des Wiener Jugendstils, gedacht  für die Patienten und Patientinnen der «Nervenheilanstalt». Der Begriff Lemoniberg entstand, weil die Wienerinnen und Wiener kollektiv darin übereinzustimmen schienen, dass die goldene Kuppel der weithin sichtbaren Kirche wie eine überdimensionale Zitronenhälfte ausschaut. GegnerInnen der geplanten Privatisierung und teilweisen Verbauung des Areals nahmen den Begriff bereits vorweg, indem sie eine von einem befreundeten Pfarrer verfasste erste «Bergpredigt» vor der Otto-Wagner-Kirche logischerweise «Lemonibergpredigt» nannten.

Im Inneren der Kirche, die leider viel zu selten für Besichtigungen zugänglich ist, steht das Modell der Kirche. Es wurde letztens, 2013, im Bezirksmuseum Penzing im Rahmen einer Otto Wagner-Sonderausstellung gezeigt. Normalerweise steht die Kirche in der Kirche, oft aber ist sie auf Reisen, denn es herrscht ein wahres «G´riss» um sie. Bei der «Wien um 1900»-Ausstellung war sie 2008  im Leopold-Museum zu betrachten, bei der «Wahnsinn und Modernität»-Ausstellung 2009 in London, im Jahr darauf wurde sie im WienMuseum am Karlsplatz und bei der «Wien 1900»-Schau in Basel ausgestellt, 2011 flog sie über den Teich, um den Wiener Jugendstil in der Neuen Galerie in New York zu repräsentieren.

Die Aufmerksamkeit der Bewunderer dieses Modells richtet sich weniger auf das detailverrückte Objekt, sondern vielmehr auf seine Entstehungsgeschichte. Es war in den 1920er Jahren, also fast vor einem Jahrhundert, von Patienten der damals größten und modernsten Heil- und Pflegeanstalt Europas «für Nerven- und Geisteskranke», dem von Otto Wagner entworfenen Pavillon-Ensemble am Steinhof, angefertigt worden. Den Faschismus überlebte die Nachbildung der Kirche mit der goldenen Kuppel nicht unversehrt. 1997 wurde sie im «Zwölfer-Pavillon», ebenfalls von Langzeitpatienten der Psychiatrie, instandgesetzt. Die drei Männer, die dieses Kunststück zuwege brachten, werkelten daran 1500 Arbeitsstunden. Sie restaurierten das Kirchenmodell aber nicht rigide ursprungsgetreu, sondern bauten ein Läutwerk und eine Beleuchtung in das Modell ein, ersetzten die verzogenen Rahmen der Holzfenster durch Aluminiumfenster und restaurierten die Wagnerschen Jugendstilengel in feinster Detailtreue.

Träger dieser Aktivität war der vom Sozialarbeiter Robert Hutfless gegründete Verein «Projekt Museum am Steinhof», der damals im Pavillon 12, heute im Keller des Pavillon 26 beheimatet ist und in Zusammenarbeit mit der Verwaltung des Otto Wagner-Spitals in Psychiatriepatienten, insbesondere von der Station für alkoholkranke Männer, im Sinn eines Empowerment-Konzepts die Leidenschaft des Handwerkens, der kreativen Arbeit, der Restaurierung erweckt. Die Männer aus dem Pavillon 26 sind heute zu Spezialisten der Restauration geworden, die vor keinem Auftrag zurückschrecken. Kein Wiederherstellungswunsch gilt als undurchführbar. Als Wiederhersteller der vom Altersverschleiß betroffenen Detailobjekte oder der traditionellen Inneneinrichtung der Otto Wagner-Architektur hat das Hutfless-Projekt inzwischen die Rolle des angewandten Denkmalschutzes eingenommen.

Stoff genug für ein imaginäres Good News-Magazin? Schön wär´s. Die wunderbare Lage des Pavillons 26 – wie der gesamten Anlage Otto Wagners – könnte der Kreativwerkstatt zum Verhängnis werden.  Eine der größten derzeit in Wien aktiven BürgerInnenbewegungen scheint ohnmächtig gegen die geplante Verscherbelung des denkmalgeschützten Ensembles zu sein. Wer das Geld hat, hat ein Recht auf die «besten Adressen», auf die Traumlagen, auf die schönsten Aussichten der Hauptstadt, so lautet das neoliberalistische Credo. Der Wiener Krankenanstaltenverbund (KAV) braucht das Otto Wagner Spital (OWS) nicht mehr und darf sich – obwohl er eigentlich keine Rechtsperson ist – den bestbietenden Investor suchen, der die Gesamtanlage am Südhang des Galitzinberges (oder Teile davon) verwerten will. Die Anlage ist städtisches Eigentum, aber die Stadt Wien hat dem KAV die Kompetenz übertragen, die öffentliche Liegenschaft Steinhof zu verkaufen. Ab einer bestimmten Wertgrenze muss die Verscherbelung zwar durch einen Gemeinderatsbeschluss abgesegnet werden, solange es aber einen Bürgermeister Häupl gibt, ist die Privatisierung von städtischen Hoffnungsflächen «Staatsräson» in dieser Stadt. Diese Haltung findet ihre Entsprechung in der Verscherbelung von zentrumsnahen Traumbauflächen durch die Immobilienfirma der ÖBB.

Schließt sich so der Kreis? Aufgrund der jahrzehntelangen Geschlossenheit der Anstalt wusste einst niemand so genau, was sich am Steinhof, abgeschirmt hinter einer fast fünf Kilometer langen Mauer, abspielt und welche Objekte sich darin befinden. Das war auch Anfang der 1970er Jahre noch so! Später, als im Zuge erster Humanisierungsprozesse in der «Stadt der Irren» (Canetti) die Eingangstore geöffnet wurden, brauchte es auch noch Monate und Jahre, bis die WienerInnen sich in das Areal hinein trauten, in vorsichtiger Erwartung gemeingefährlicher Wahnsinniger, die hinter Hausecken auf Unbescholtene lauerten. Solche Klischees lösten sich zum Teil erst nach Jahren auf. Heute hängt das Damoklesschwert einer neuen Aussperrung der Öffentlichkeit über dem Lemoniberg; kritische BeobachterInnen entdeckten, dass im aktuellen Flächenwidmungsplan nur noch der Direktweg vom Haupteingang hinauf zur Kirche als von der Öffentlichkeit begehbare obligatorische Zutrittsmöglichkeit eingezeichnet ist.

Nichts war notwendiger als die Psychiatriereform. Am radikalsten äußerte sich die Überwindung der gefängnisähnlichen Institution Irrenanstalt in Italien. In Triest war fast zeitgleich mit der Errichtung des Otto-Wagner-Ensembles die Anstalt San Giovanni des Architekten Ludovico Braidotti entstanden. In Mailand wurde zwei Jahrzehnte später die psychiatrische Anstalt Paolo Bini fertig gestellt. Die mit dem Namen des großen Psychiatriereformers Franco Basaglia verbundene Totalkritik der psychiatrischen Diagnostik und der psychiatrischen Versorgung führte eigentlich zu keiner Reform, sondern zu einer Revolution, die eine Zertrümmerung der Mauern und eine Befreiung der «Irren» beinhaltete. Ein neues italienisches Gesetz verbot daher die weitere psychiatrische Nutzung der Anlagen. Was in Wien heute wie eine Utopie erscheint, war in den beiden italienischen Städten eine Selbstverständlichkeit: Es war klar, dass nur öffentliche und soziale Nachnutzungen in Frage kamen.

Einer der ersten Schritte in Triest war, eine öffentliche Buslinie zu reaktivieren, deren Kurs quer durch die Ex-Psychiatrie gelegt wurde. Ein deutlicheres Signal dafür, dass das Psychiatrieareal nun «dem Volk» gehöre, war nicht vorstellbar. Die frei gewordenen Gebäude werden in Triest wie in Mailand für soziale Gastronomie, Bildungseinrichtungen, Kinos, Theater, Sozialdienste und für internationale Tagungen genutzt. Auf  den großen, attraktiven Freiflächen finden Konzerte und Festivals statt. In beiden Prozessen spielten städtische Planungsinstitutionen keine führende Rolle. In Triest wurde die Planung hauptsächlich von der zuständigen regionalen Gesundheitsbehörde und in Mailand hauptsächlich von der gemeinnützigen Organisation Olinda durchgeführt. Beide Organisationen wählten die ArchitektInnen und PlanerInnen aus, die ihre Entwürfe an den Bedürfnissen der NutzerInnen auszurichten hatten. Im Fall des Lemonibergs sind solche Partizipationsprozesse schon im ideellen Ansatz zunichte gemacht worden. Man stelle sich vor: Die Bürgerinitiative gegen die Privatisierung des Steinhofs bekäme von der Stadtregierung den Auftrag, PlanerInnen zu finden, um die Vorschläge zivilgesellschaftlicher Organisationen, die es in Bezug auf die Nachnutzung der Otto-Wagner-Anlage bereits gibt, zu prüfen und zu realisieren. Zuviel Italienisch in der Triestiner oder Mailänder Färbung kann sich schädlich auf die Orientierung an neoliberaler Stadtpolitik auswirken.

Robert Sommer


INFO-BOX

Adresse: 1140 Wien, Baumgartner Höhe 1
Erreichbar mit der Buslinie 48 A

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15  Die Schmelz und ihr Schutzhaus

Wem gehört das Grün?

Wenn ich Freundinnen und Freunden gegenüber, die von auswärts kommen, zuvorkommend genug bin, um ihre garantiert vorhandenen Wien-Klischees zu legitimieren und endgültig zu bestätigen, führe ich sie gerne ins Schutzhaus Zukunft, das sich im Zentrum der Kleingartenanlage Schmelz befindet. Übrigens bin ich bei weitem nicht der einzige, der auf diese Urwiener Gastronomie- und Unterhaltungsinstitution abfährt und ihren Triumph (wie ich ihn wahrnehme) über moderne Äquivalente zelebriert. Das Schutzhaus hat viele gastronomische Antipoden, und es sticht sie alle aus (wie ich es wahrnehme); es ist die Negation des Schweizerhauses plus die Negation der Hermann-Bar am Donaukanal plus die Negation der Copa Cagrana etc. Man braucht nur durch die diversen Beisltest-Seiten im Web zu surfen, um eine Ahnung zu kriegen, welchen Stellenwert das Schutzhaus für uns «GlobalisierungsgegnerInnen» hat, die – leider muss man das immer noch dazusagen –  nicht GegnerInnen eines weltweiten virtuellen und praktischen Austausches von Menschen, sondern Feinde einer Globalisierung «von oben» sind.


Viele Kommentare gehen auf die großen Essensportionen ein, zum Beispiel so: «Der Biergarten ist eine Wucht – mir fällt fast kein schönerer in Wien ein. Das Service und Ambiente ist ‚as urig as it gets’, die Kellner haben einen Schmäh und die Gäste scheinen zu 80% aus Wienern zu bestehen. Die anderen Berichte haben es schon angesprochen: Das Essen ist sehr, sehr, sehr deftig. Ich hatte das Rindsgulasch mit Knödel und muss sagen, ich habe fast nicht geschafft es aufzuessen und es ist mir noch stundenlang im Magen gelegen. Geliefert wurde das Ganze außerdem in etwa zwei Minuten nach der Bestellung (kein Scherz), das ist taktisch etwas unklug, denn damit hat man nicht einmal mehr die Illusion, dass es nicht in der Mikrowelle aufgewärmt wurde. Die Bierauswahl ist dafür super.» Einem fällt die Dominanz der Brösel-Ei-Mehlkruste auf: «Hauptspeisen sind eher deftig und gerne gebacken: vom regulären Schnitzel über Fisch bis zur Leber kommt alles in Panier», was offensichtlich nicht ganz den Geschmack des Posters findet.


Für manche natürlich zählt die fleischorientierte Deftigkeit zu den Entbehrlichkeiten der traditionellen Wiener Küche: «Die Getränke- und Speisekarte deckt eher deftige Wiener Hausmannskost ab. Allen voran Blunzngröstl oder Augsburger, mit Pommes Frittes oder Gurkensalat. Beuschl mit Knödel oder Hirn mit Ei. Kurz, alle Grauslichkeiten einer typisch Wienerischen Kulinarik werden serviert, für Fans derselben so etwas wie Delikatessen. Nach Saison Eierschwammerl- oder Kürbisgerichte. Im Hochsommer kann es schon mal passieren, dass die Griesnockerlsuppe sauer ist. Die Griesnockerl an sich jedoch sind nahezu perfekt, nicht zu weich und nicht zu hart. Für mich zählen eher härtere Griesnockerl, also bestelle ich lieber Salat mit dunklem Kürbiskernöl». Das Gesetz der überflüssigen Informationsüberschüsse im Internet gilt auch hier, wie an diesem Kommentar zu spüren ist.


Wenn im großen Saal des Schutzhauses Zukunft eine Musikveranstaltung läuft und jeder Platz besetzt ist, kann es zu Engpässen in der Bedienung kommen. Bei solchen Gelegenheiten kann beobachtet werden, wie die angeblich Wien-typische Neigung zum Raunzen in die neuen Medien einsickert, ohne von der Gegenkraft der urbanen Nonchalance, einer zeitgenössischen Indifferenz gegenüber Störfaktoren, gehemmt zu werden: «Kein Kellner weit und breit, der für unseren Tisch zuständig war. Ich sprach eine vorbeiflitzende Kellnerin an, diese meinte sie sei nicht zuständig. Das kennt man ja zur Genüge. Ich glaube, mein ganzes Leben sitze ich am falschen Tisch. Nämlich an dem, wo der Kellner NICHT zuständig ist. Ich starre Richtung Saaleingang und erspähe ihn klopfenden Herzens, fröhlichen Muts und knurrenden Magens. Konzentriert verfolge ich ihn. Er nähert sich, ich winke ihm zu, flugs ist er wieder ab Richtung Küche. Meine Chance hatte ich, denn er war nur mehr fünf Personen weit weg, beim Aufnehmen der Speisen und Getränke. Er kommt wieder. Die Regungen meines Körpers … siehe einige Zeilen vorher. Fehlalarm, diesmal hatten uns jedoch nur mehr zwei Personen getrennt. Beim nächsten Mal gab mir mein rechnerischer Verstand ein, ist es so weit. Er kommt und – er steht vor mir, um meine Wünsche auf seinen Block zu kritzeln. ‚Einmal Fleischknödeln und einmal Bauernschmaus.’ Fleischknödeln sind aus und ich total flexibel: Dann nehme ich das Schnitzel, sage ich. Sagt er: ‚Zum Essen kann ich jetzt nichts mehr aufnehmen, das schafft die Küche nicht mehr vor der Vorstellung’». Worüber es sich raunzen lässt, soll man nicht auch noch in einen Blog schreiben, das sollten wir doch von Wittgenstein gelernt haben.


Das Flair des Schutzhauses nützen viele BallveranstalterInnen. Nirgends ist der Pluralismus der Bälle größer als hier. Die «Linken Tanz», der Ball der Wiener KommunstInnen, haben hier genauso Tradition wie der «Ball der Gewichtheber». Letzterer erinnert an die verflossene Zeit, als das Schutzhaus noch regelmäßig der Austragungsort der Gewichtheber-Meisterschaften war. Die Bühne wäre immer noch stabil genug, um eine regelkonforme Wiederaufnahme der Wettbewerbe zu ermöglichen. Aber da die Herren und Damen StemmerInnen nach dem Stemmen auch gerne duschen wollen und das Recht auf geräumige Umkleidekabinen haben, ziehen sie moderne Kraftsportzentren vor, unbeeindruckt von unserem Ruf nach «Authentizität», dem bei allem fraglosen Charme der Wirtshausgewichtheberei etwas Hinterweltlerisches anhaftet. Nicht um diese ewigen Sucher nach der Wiener Idylle zu befriedigen, sondern eher wohl als Angebot für (latent) voyeuristische männliche Gäste gedacht, hat der Veranstalter, der Gewichtheberverein Argos/Hermann, 2014 eine Frauen-Meisterschaft im Reißen und Stoßen in das Ballgeschehen integriert. Aus der Chronik der vereinseigenen Website: «… danach gehörte die Bühne den Athletinnen, die von den zahlreichen Zuschauern angefeuert wurden, die auch wieder von nah und fern angereist kamen.»


Hinter dem Namen Argos/Hermann verbirgt sich eine geballte Ladung Wiener Sportgeschichte. Der Wiener Athleten Club Hermann wurde 1897 gegründet; Namensgeber ist der legendäre Führer der Germanen, der – wie man uns in der Schule lehrte – im Teutoburger Wald die Römer schlug. In Wahrheit erschlugen Germanen einander, aber das ist eine andere Geschichte. Der andere Verein, der mit Hermann fusionierte, war 1926 gegründet worden, ursprünglich als Geselligkeits-Kraftsportverein «Rigoulot». Charles Rigoulot war in den 1920er Jahren ein Ausnahmesportler: er gewann olympische wie nationale Gewichtheberbewerbe, und nebenbei gewann er Autorennen. Er hatte – aus der Sicht der Austrofaschisten – nur einen Fehler: er war Franzose. Der Verein musste demnach umbenannt werden. Gegen Argos, die antike Stadt der starken Männer, sprach nichts (dass die Nachfolgestadt Argos, heute 22.000 EinwohnerInnen, eine starke Linke hat, konnten die Autoritäten damals noch nicht wissen). Der nächste «Ball der Gewichtheber» findet übrigens am 31. Jänner 2015 statt.

Wer immer nur zu den Bällen ins Schutzhaus kommt, also in der kalten Jahreszeit, weiß wenig vom Wert der Grünoase, von der es rundherum umgeben ist. Die Kleingartenanlage auf der Schmelz, Europas größte Kleingartenanlage innerhalb verbauten Gebiets, macht den Hauptteil dieser Oase aus. Dazu kommen die Sportplätze einer Schule, der Sportuni und des ASKÖ. Es ist die grüne Lunge des statistisch ärmsten Bezirks der Bundeshauptstadt. Recht viel von diesem Grün haben die Menschen, die im 15. Bezirk wohnen, jedoch nicht. Die Sportplätze sind für die Öffentlichkeit nicht zugänglich, obwohl es zum Teil gewaltige Zeitfenster gibt, in denen sie nicht benützt werden. Die drei Fußwege, die von der Öffentlichkeit durchgängig benützt werden können, sind zu Orten des Konfliktes geworden. Zwei Tische, die den Flanierenden zur Verfügung standen, wurden amtlicherseits abmontiert, nachdem sich einige angrenzende KleingärtnerInnen über Lärm in den Nachtstunden und liegengebliebenen Müll beschwert hatten. Im Fall einer  weiteren Sitznische warteten die SchrebergärtnerInnen nicht einmal eine Entscheidung im Bezirksamt ab. Sie entfernten sie in Eigenregie. Das kleingarteninterne Wegenetz, immer schon eine halböffentliche Angelegenheit, ist seit kurzem nur noch fünf Monate im Jahr offen.


Die KleingärtnerInnen nützen die Lücken des Wiener Kleingartengesetzes recht geschickt im eigenen Interesse. Die essentiellste Bestimmung lautet, dass zwei Drittel der Fläche gärtnerisch genutzt werden müssen. Eine zahnlose Verordnung, da das Gesetz zahlreiche Ausnahmen vorsieht. Die Folgen sind auf der Schmelz besonders gravierend, da die Parzellen deutlich kleiner sind als in anderen Wiener Kleingartenanlagen. Einer Information der grünen Bezirksfraktion entnehme ich folgendes Rechenbeispiel: Erlaubt sind 35 Quadratmeter Hausfläche, 23,1 Quadratmeter Terrasse, 25 Quadratmeter Swimming Pool und 5 Quadratmeter Nebengebäude. Macht in Summe 88 Quadratmeter, bei einer Gartengröße von 194 Quadratmetern sind das mehr als 45 Prozent der Gartenfläche. Rechnet man die übliche Fläche für Wege, Lichtschächte etc. dazu, ist man sehr schnell über 50% der Gartenfläche. Bei immer mehr neu bebauten Gärten wird der gesetzliche Spielraum komplett ausgenützt. Die Ursprungsregel, die eine Verbauung von mehr als 33,3 % verbot, ist durch die Zusatzbestimmungen unterlaufen. «Eine schleichende Demontage des Grünraums auf der Schmelz ist die Folge», kritisieren die Grünen.

Wenn das private Interesse der Kleingartenfamilien an  einer Beseitigung «eigentumsfeindlicher» Regulierungen und ihr legitimes Ruhebedürfnis  in Konflikt mit dem Wunsch der BezirksbewohnerInnen gerät, an dem wenigen Grün zu partizipieren, ist eine Eskalationsgefahr groß. Das scheint Edith Wildmann, der Sprecherin der Freiraum Initiative Schmelz (FRISCH) sehr bewusst zu sein. Ihre Initiative richtet die Hauptaufmerksamkeit auf Vereinbarungen mit den Sportplatz-Betreibern, die auf eine Teilöffnung hinauslaufen. Zunehmend kann sie auf neue «Kultur» in der Kleingartenpopulation bauen – auf eine neue Generation von KleingärtnerInnen, die ihre Egoismen zurückdrängt und auf einen Ausgleich zwischen den Interessen der «Kleinhäusler» und denen der Mieter der Gründerzeithäuser in der Umgebung achtet. Einen guten Platz, die Köpfe zusammenzustecken und dann ein Bier drauf zu trinken, brauchen sie nicht erst lange suchen.

Robert Sommer


INFO-BOX

Schutzhaus Zukunft:
http://www.schutzhaus-zukunft.at/

FRISCH_Freiraum Initiative Schmelz:
http://www.freiraum-schmelz.at/

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16  Sandleiten

Geschichte zurückerobern

Nur ein Zufall: Der Klang des Namens korrespondiert mit dem Flair des Platzes, der diesen Namen trägt. Der Name ist (für Wiener wie für Berliner) Ohren wohlklingend wie viele italienische Wörter. Giacomo Matteotti. Dschakomomadde-Oddi, wie es vielleicht artmännisch hieße. Matteottiplatz. Ein passender Name für einen Platz mit mediterranem Charme. Wenn er bloß auch mit mediterraner Lebensfreude gefüllt wäre. Auf alten Aufnahmen gibt es sie noch, die unzähligen HerumsteherInnen und SpaziergängerInnen, die Eilenden und die, die ganz pomali unterwegs sind.

Der Matteottiplatz war/ist der Hauptplatz von Sandleiten, der Stadt in der Stadt mit mehr als 4000 BewohnerInnen, mithin des größten Gemeindebaus des Roten Wien. Nach der Fertigstellung im Jahre 1928 gab es hier neben den 1.600 Wohnungen 75 Geschäftslokale, ein Gasthaus, ein Cafe, drei Bade- und Wäschereibetriebe, 58 Werkstätten, drei Ateliers, ein Postamt, drei Kinderhorte, eine Bücherei, eine Apotheke und als Draufgabe einen Kino- und Theatersaal. Am radikalsten rotteten die neuen ökonomischen «Zwänge» die Werkstätten aus. Werkstätten sind systemfremd geworden, vor allem Reparaturwerkstätten (die letzten Werkstätten Österreichs, die Autowerkstätten, werden in 30 Jahren eingehen – ungefähr zum Zeitpunkt der Werkstatt-Renaissance der post-neoliberalen und solidarischen Wirtschaft; soviel Zukunftsglaube darf formuliert werden im Zusammenhang mit dem italienischen Revolutionär Matteotti, der an ein rotes Paradies auf Erden glaubte und 1924 von Faschisten ermordet wurde).

2030, 2040 oder vielleicht schon früher heißt der Matteottiplatz - die Wette gilt - nicht mehr Matteottiplatz, sondern Heini-Klein-Platz. Nicht, weil der Italienische Held an Wertschätzung verloren hat, sondern weil die neue österreichische Geschichtswissenschaft und Erinnerungspolitik endlich jenen Personen Gerechtigkeit widerfahren lässt, die aus der offiziellem Geschichte eliminiert wurden, und weil man für Menschen wie Heini Klein dann die repräsentativsten öffentlichen Räume braucht. Die Namen müssen mit den Orten wertmäßig übereinstimmen, daher würde es nicht gehen, eine fünfstufige Treppe in der finstersten Ecke Sandleitens nach Heini Klein zu nennen. Ich durfte ihn noch persönlich kennen lernen, er war der sanfteste Revolutionär, der mir in meinen 17 KPÖ-Jahren über den Weg lief. Ich wäre nicht ausgetreten, wenn solch liebenswürdige Antidogmatiker und Menschenfreunde statt den aus dem Moskauer Exil kommenden Alleswissern und Weniglächlern die Partei prägen hätten dürfen.

Der Hauptplatz von Sandleiten sollte es sein, der Kleins Namen trägt, denn Heini Klein war der Held von Sandleiten – obwohl er uns den Gebrauch dieses Titels verboten hätte. Heli Neuhaus und Paul Vodicka, auch sie WiderstandskämpferInnen, erinnern sich noch an den April 1945, in dem manches anders verlaufen wäre, wenn der damals 27jährige Heini Klein nicht eine fixe Idee gehabt hätte: «In Wien wird nicht gekämpft, Wien darf kein zweites Budapest werden, das war seine und unsere Losung. Denn in Budapest gab es lange Kämpfe zwischen sowjetischem Militär und SS, und währenddessen verhungerten die Kinder und die alten Leute in den Kellern, das wollten wir vermeiden«, erklärt Heli Neuhaus. Sie und Paul Vodicka sind 2014 im Rahmen des soziokulturellen Projekts «Soho in Ottakring» von der Soho-Mitarbeiterin Kerstin Kellermann interviewt worden.

Paul Vodicka erinnert sich:  «Ende März, Anfang April stand die Rote Armee unmittelbar vor Wien. Der Gauleiter von Wien, Baldur von Schirach, hat den Befehl gegeben, um jedes Haus mit vollem Einsatz zu kämpfen. Zum Schutz der Bevölkerung und um die Zerstörung der Wohnhäuser zu verhindern, wurde die Arbeit der Ottakringer Widerstandsgruppe in der Öffentlichkeit sichtbar aktiver. So fuhren die Genossinnen und Genossen mit Fahrrädern durch den Bezirk und gaben die Parole aus, weiße Fahnen in die Fenster zu hängen. Flugblätter, die zum aktiven und passiven Widerstand aufriefen, wurden in großen Auflagen produziert und mit einem Werksbus des ‚Völkischen Beobachter’  in die Straßen gestreut. Jetzt wurden auch Waffen an die einzelnen Gruppen verteilt. Auf den Hügeln rund um Ottakring, dem Satzberg, dem Heuberg und dem Exelberg, waren Wehrmachts-, SS- und Volkssturmbataillone stationiert, um die Rote Armee aufzuhalten. Allen Mitgliedern des Kommunistischen Jugendverbands (KJV 44; die Zahl bezieht sich auf das Gründungsjahr 1944) war klar: Ottakring darf nicht Kriegsschauplatz werden! Heini Klein hatte eine Armeeuniform an – und einen gefälschten Befehl in der Hand. Dieser falsche Befehl ordnete an, dass die Hauptkampflinie vom Wienerwald zum Gürtel zurückverlegt werden sollte. Die nun zurückflutenden Soldaten, SS-ler und Volkssturmrekruten, konnten von den WiderstandskämpferInnen überredet werden, ihre Waffen abzugeben. Sie wurden dann  mit Zivilkleidern versorgt, die sie aus den aufgebrochenen Sammelstellen des NS-Winterhilfswerks hatten.»

Durch die kampflose, unblutige Operation, die sich hauptsächlich im Sandleitenhof abspielte, ist Ottakring erspart geblieben, was die Menschen in anderen Teilen Wiens erdulden mussten: Verteidigungskämpfe, als der Krieg längst verloren war, was jede und jeder wusste.

Von der KP-Spitze hatten die Ottakringer Jungkommunisten noch einen besonderen Auftrag erhalten: «Bringt uns den Kunschak!» An diesen »Befehl» erinnert sich Herr Vodicka besonders gerne – weil es nämlich er war, der wusste, wo der christlichsoziale Politiker versteckt war, den die Kommunisten brauchten, um eine rot-rosa-schwarze Koalitionsregierung zu bilden. «Den Leopold Kunschak habe ich aus dem Keller geholt«, erzählt der Widerstandskämpfer. «Aus dem Keller in der Hernalser Hauptstraße 53. Der saß nämlich vis a vis seiner Wohnung auf Nummer 54 im Keller. Warum er nicht in seinem eigenen Keller saß, weiß ich auch nicht. Der ist immer dort im Keller gesessen, weil er Angst gehabt hat vor den Russen.»

Solche Geschichten sind es, die die – grätzlfremden – Intellektuellen rund um «Soho in Ottakring» ausgraben oder neu entdecken. Aus der Sicht der sozialistischen Geschichtsschreibung hatten Heini Klein und Co. ihren Weg bei der richtigen Partei begonnen, waren dann aber in der falschen gelandet. Aus den Roten Falken wurden junge KommunistInnen. Deswegen werden sie ausgespart aus vielen Erzählungen zur Geschichte der Gemeindebauten nach dem Ende des Experiments «Rotes Wien», 1934. Dass ihre Zurückholung in die Geschichte, wie das Beispiel Sandleiten zeigt, weniger über wissenschaftliche, über massenmediale und über städtisch-volksbildnerische Kanäle erfolgt als über Projekte engagierter Kunstschaffender oder KulturvermittlerInnen, kann als Kompliment an die Kunst und als Frage an Politik, Medien und Universität verstanden werden. Durch die neue Konzentration auf den Gemeindebau Sandleiten am Rande des 16. Bezirks kann «Soho in Ottakring» den Fehler vermeiden, durch die Mobilisierung künstlerischer Energien in vernachlässigten Stadtteilen zu einer Aufwertung des Areals und indirekt zu einer Vertreibung ärmerer Schichten in billigere Wohnbezirke beizutragen, wie ihm das im Fall der früheren Projekte am Brunnenmarkt und am Yppenplatz vorgeworfen werden konnte. Als Gemeinde-Wohnanlage ist Sandleiten dem Markt entzogen, was eine «unschuldigere» Beteiligung der KünstlerInnen  ermöglicht. Diese vermögen Beiträge zu leisten, dass eine «Stadt in der Stadt» wie Sandleiten wieder zu sich selbst kommt – und zu seiner Geschichte.

Und so muss auch der Blogger Wolfgang Krammer nicht fürchten, dass seine Elegie an den Gemeindebau einen Boom auslöst, der Sandleiten in ein Luxusghetto verwandeln würde: «Keine Spur von Satellitensiedlung am Stadtrand. Lässig lümmelt sich die Anlage an die Hänge eines ehemaligen Weinbaugebietes. An die Sandleiten. Offen, luftig, mit vielen Freiräumen. Bei Westwind – und der bläst häufig in Wien – riecht man den Wald des nahen Wilhelminenberges. Von den turbulenten Zeiten einer Stadt in der Stadt ist nicht mehr viel zu spüren, dafür aber mehr vom ‚Dorf am Stadtrand’. Dennoch ist die Lage des Sandleitenhofes  Weltklasse. In zehn Minuten im Wald oder in zehn Minuten bei der U-Bahn. Die Straßenbahn vor der Tür. Heurige in Griffweite. Auch das Kongressbad. Je nach Geschmack. Viele der Architekten, die Gemeindebauten geplant haben,  waren Schüler von Otto Wagner. Doch beim Sandleitenhof gaben andere Ideen und Konzepte den Ton an. Kleine und große Plätze, kurvige Wohnstraßen, viele Grünflächen. Überhaupt war die Wohnbautätigkeit dieser Jahre ein spektakuläres Kontrastprogramm zur Wohnsituation der vorangegangenen Jahrzehnte: Zinskasernen mit Wasseranschluss und Gemeinschafts-WC am Gang (…) Die Architektur mancher dieser Bauten aus der Zwischenkriegszeit erinnert ein wenig an die Bauhaus-Architektur. Ganz besonders zum Beispiel die Werkbundsiedlung. Vielleicht fühle  ich mich auch deshalb bei meinen Streifzügen durch die Bauhausviertel in Tel Aviv so heimisch. Aber das ist eine andere Geschichte…»

Robert Sommer
 


INFO-BOX

Soho in Ottakring:
http://www.sohoinottakring.at/

Wolfgang Krammers Blog:
http://wolfgangkrammer.wordpress.com/

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17  Der Sportklubplatz

Derby of Love

Dem Sportklubplatz zwischen der Alszeile und der Hernalser Hauptstraße, am Fuße des Dornbacher Friedhofs und der Weinberge des 17. Bezirks, ist ein literarisches Denkmal gesetzt worden. Es handelt sich um das literarische Debüt des Wieners Andi Luf. «Sixpack» heißt sein Roman, und er enthält vor allem eine glaubwürdig realistische Darstellung und Würdigung der «Friedhofstribüne», des liebenswürdigsten Fanclubs von Wien. Zwar gibt es zur Zeit attraktiveren Fußball als jener, der vom Wiener Sportklub – derzeit in der dritten Liga von oben, in der Regionalliga Ost – geboten wird, doch für ZeitgenossInnen, denen die von autoritären Machos dirigierten sozialen Skulpturen der Fußball-Ultras der großen Profivereine auf die Nerven gehen, ist ein Besuch der Friedhofstribüne bei Heimspielen des WSK längst kein Geheimtipp mehr.

Andi Luf zur finanziellen Lage des Sportklubs:
nach zwei konkursen, einer deswegen notwendigen vereinsneugründung, blieb vor allem eines übrig: notorischer geldmangel. am von der gemeinde gepachteten stadion konnte also immer nur das notwendigste repariert werden, was trotzdem nicht verhindern konnte, dass das ganze ensemble langsam zusammenzufallen drohte. bis auf weiteres keine aussicht auf besserung.

Über Franz (fiktiver Name), die Seele und der Motor der Friedhofstribüne:
seine große stärke waren nicht die vielen worte, sondern mehr die taten. Sein kulturelles und soziales engagement, wenn es zum beispiel um das organisieren von obdachlosenturnieren, ute bock-cup und ähnlichen veranstaltungen ging, war nicht nur wegen des geldes, das möglicherweise in der klubkassa hängen blieb. es war ein anliegen vieler, solchen initiativen in unserem stadion platz zu geben. ein großer glücksfall, dass die vereinsleitung ähnlich dachte.

Über die Unterschiede zur Fankultur bei Rapid und Austria:
dass unser klub den aufstieg eine klasse höher regelmäßig verpasste, war mir aus mehreren gründen ganz recht. in der regionalliga konnte es auch ganz gemütlich sein. auf den tribünen waren nicht dieselben sicherheitsvorkehrungen notwendig wie in der höheren bundesliga, auch die fans waren nicht so fanatisch, von ultras weit und breit nichts zu sehen. da werdet ihr eine andere fußballwelt kennenlernen als bei austria oder rapid. (die friedhofstribüne) war bei den frauen überhaupt eine beliebte tribüne, weil bei uns gepflegte fußballstimmung hochgehalten wurde. wir hatten keinen vorsänger, der mit megaphon der tribüne einbläute, was denn jetzt gesungen werden soll, meistens ein öder dauergesang. der reinhard nannte die ultras-chöre verächtlich: die schallallalisten.

Über die ungerechte Bevorzugung der «Fußballhochkultur»:
(unseren sanierungsplan) wollten wir natürlich dem herrn bürgermeister zeigen, der sich bis dahin nur gegenüber den beiden großen wiener fußballvereinen rapid und austria als besonders großzügig erwiesen hatte. einen teil von dem kuchen wollten wir auch haben, noch dazu, wo unser stadion das älteste bespielte fußballstadion im ganzen land war und schon seit jahrzehnten nicht mehr generalsaniert wurde. vieles konnte gar nicht mehr repariert werden, weil es eben nichts nützt, die wasserschäden in den gängen zu sanieren, wenn es an der decke über die tribüne bei jedem regen wieder reinkommt.

Über die Freundschaft mit der einzig ähnlich gelagerten Fangruppe in Wien, den Vienna-Supporters:
fehlen mir schon, die gemeinsamen derbies. Bis zu 6000 zuschauer sind da zu unseren regionalligaspielen gekommen. derby of love, wie es genannnt wurde. weil wir in beiden vereinen nichts von der neandertalerkultur hielten, die zum beispiel beim anderen wiener derby, rapid gegen austria, oft zu diversen schlägereien und gewalttätigen auseinandersetzungen führte. diese besonderheit unserer fangruppierungen machte das derby of love aus.

Andi Luf konnte, als er seinen Roman fertig stellte, noch nicht wissen, dass die Vienna in die Regionalliga Ost absteigen sollte. Bis auf weiteres ist das «Derby of Love» also wieder angesagt, InteressentInnen ist zu empfehlen, auf den Websites der beiden Vereine die Termine dieser Begegnungen abzurufen. Ein Nachfragen beim Vereinsvorstand und beim Fanclub bestätigt, dass Lufs literarische Fiktion einen dokumentarischen Charakter hat. Die im Roman angesprochene einseitige Förderpolitik des Rathauses ist traurige Realität und entspricht der ungeheuren Privilegierung von Institutionen der «Hochkultur» im Vergleich zu den Subventionen etwa der freien Theaterszene. Den Neubau des Rapid-Stadions will die Stadt Wien, wie geschrieben wurde, mit 20 Millionen Euro unterstützen; die beiden schönsten Stadien Wiens, der Sportklubplatz in Hernals und die Hohe Warte in Heiligenstadt, lässt die Stadtregierung verfallen – oder sie bietet «Rettung» in Form von teilweise Privatisierungen des Stadiongeländes an, das kommunales Eigentum ist. Die Magistratsabteilung für Sportangelegenheiten verhandelte in den letzten Jahren mit einer Immobiliengesellschaft, die zum SP- und Stadt-Wien-nahen Netzwerk zählt: Die Arwag will eine Wohnanlage über die Friedhofstribüne bauen. Ja, es gibt sogar einen Plan, über sämtliche Tribünen des Sportklubplatzes mehrstöckige Eigentumswohnungskomplexe aufzutürmen, um durch den Verkauf dieser Fläche das Geld für die Stadionsanierung einzunehmen. Vor allem diesem Plan gegenüber ist Martin Rossbacher, der Obmann des Vereins «FreundInnen der Friedhofstribüne», sehr skeptisch: «Wir haben die Idee von Wohnungen am Platz generell infrage gestellt, weil das zwingend Konflikte zwischen Anrainern und Stadionpublikum mit sich bringen würde. Die WohnungsbesitzerInnen würden natürlich durchsetzen wollen, dass außer den Meisterschafts-Heimspielen keine zusätzlichen Veranstaltungen auf dem Rasen stattfinden, denn ihr Interesse ist optimaler Ruhezustand. Wir müssten dann um jeden Termin kämpfen, etwa wenn wir – wie es im Roman erwähnt wird – Obdachlosen-Fußballturniere oder den traditionellen Ute Bock-Cup organisieren wollen.» Rossbacher träumt von einem «kooperativen Planungsverfahren», in das die Fans und der Sportklub eingebunden werden müssten.

Die Sanierung des Sportklubplatzes soll mehrere Millionen kosten. Der Sportklub kann das klarerweise selbst nicht finanzieren. Warum die Stadt überhaupt so viel Geld in einen Regionalligisten investieren sollte?  Er könne diese Frage nicht nachvollziehen. Eine Verschwendung? Die Stadt habe in der Vergangenheit bei Sportstätten sehr viel Geld für wenig bis gar nicht nachhaltige Projekte ausgegeben, meint Rossbacher. The Winner takes it all – das gilt auch auf diesem Gebiet. Stadionprojekte von Bundesliga-Vereinen werden mit zweistelligen Millionenbeträgen subventioniert, während weniger prominente Vereine für den Erhalt ihrer Spielstätten Teile der Stadionflächen an Immobilienhaie verkaufen oder auf langfristige Pachtrechte verzichten müssen. Martin Rossbacher ist ein politischer denkender Mensch. Andernfalls wäre er von den FreundInnen der Friedhofsbühne  nicht als Obmann akzeptiert worden. Als politischer Mensch reiht er die drohenden Entwicklungen am Sportklubplatz in die Liste der neoliberalen Sünden der Stadt ein: «Scheinbar wird alles, was der Öffentlichkeit oder der Kommune gehört und was sich in einer hochwertigen Lage befindet, an Private verscherbelt.» Im Herbst leuchten die Weinberge rot in Richtung Friedhofstribüne herunter. Warum sollte nicht auch einmal ein Fußballfanclub das Recht auf eine Premiumlage haben.

Robert Sommer


INFO-BOX

Buchtipp:
„Sixpack“
von Andi Luf
Erhältlich beim Autor – Kontakt: AndreasLuf@tele2.at
oder 0664-9771330,
oder in ausgewählten Buchhandlungen und Geschäften.

Wiener Sportklub:
http://www.wienersportklub.at/

Freund_innen der Friedhofstribüne:
http://www.friedhofstribuene.at/

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Essay Vorlesen
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18  Die Vorortelinie

Doktor Wagners Bergbahn

Wie oft ist der Name Otto Wagner auf www.stadtflanerien.at schon vorgekommen? Oft, aber nicht oft genug. Er hat Wien kultiviert wie kein anderer Architekt. Den ersten seiner großen Aufträge, die ihm erlaubten, der Stadt seinen Stempel aufzudrücken, bekam er 1894 vom Handelsministerium der k. & k. Monarchie, das auch für das Eisenbahnwesen zuständig war. Otto Wagner war für die künstlerische Ausgestaltung der Hochbauten und der Brücken für alle vier Linien der Wiener Stadtbahn zuständig: Wientallinie, Gürtellinie, Donaukanallinie und Vorortelinie. Einmal mehr ein Hinweis auf die Modernität der Stadtplanung in den letzten Jahren der Monarchie? Haben wir es mit Oberbürokraten (wie dem damaligen Handels- und Verkehrsminister Ladislaus Gundacker von Wurmbrand-Stuppach) zu tun, die in der Lage waren, die zukünftige Bedeutung Wagners, lange bevor dieser als DER Vertreter der Moderne in der österreichischen Architektur berühmt werden sollte, zu antizipieren?

Zu dick aufgetragen wäre hier des Grafen Aufgeschlossenheit. Der Minister wandte sich nicht direkt an Otto Wagner, sondern an das Künstlerhaus, die Genossenschaft bildender Künstler Wiens – zu dieser Zeit eine konservative Institution.  Das Künstlerhaus solle eines seiner Mitglieder als künstlerischen Beirat der Stadtbahn-Kommission nominieren. Otto Wagner wurde ausgewählt. Was dann geschah, war eine Umwandlung der zunächst ins Auge gefassten beratenden Rolle des Beirats in eine aktiv gestaltende. Otto Wagner scheint die Kommission davon überzeugt zu haben, dass es besser wäre, ihm die ästhetische Seite der Angelegenheit ganz und gar zu übertragen, anstatt ihn schon vorhandene oder noch zu erwartende Entwürfe überarbeiten zu lassen. Die Selbstverwirklichungsmaschine Wagner bescherte uns WienerInnen eine Stadtbahn, die zum schützenswerten kulturellen Erbe der Städte zählt. Dabei hatte der in die Kommission gewählte Architekt noch nie ein Verkehrsbauwerk realisiert. Die Häuser, die er bis dahin in Wien realisiert hatte, waren nicht besonders aufmerksamkeitserregend. Hätten Kollegium, Minister und Künstlerhaus geahnt, welche Entwicklung Wagner dann nehmen wird, wäre er möglicherweise nie der Architekt der Wiener Stadtbahn geworden. 1899 trat Wagner aus dem Künstlerhaus aus, verabschiedete sich vom Historismus und wurde zur Verkörperung des Jugendstils. Das Bahnhofsgebäude in Gersthof, 18. Bezirk, ist jedoch noch ein Produkt aus Prä-Jugendstil-Zeiten (was WienführerInnen nicht daran hindert, vom «Jugendstilbahnhof» zu reden).

Otto Wagner hat den Stadtbahnauftrag als historistisch orientierter Architekt erhalten und die ersten Entwürfe erwartungsgemäß ausgeführt. Dazu gehörten eben die Stationen der Vorortelinie. Die Pavillon-Stationen der jüngeren Linien haben wenig mit Gebäuden wie in Gersthof gemein. Immerhin, Otto Wagner konnte seine Revolution durchführen, ohne den Auftrag zu verlieren. Ich musste lange nachdenken, ob ein heutiger Otto Wagner als Partner der Politik und der Verwaltung vorstellbar sei; die Zeit war natürlich vergeudet, denn weder gibt es einen heutigen Otto Wagner, noch würde die Politik den Mut haben, das fast gesetzmäßig hereinbrechende Ressentiment gegen die Moderne, zu dessen Plattform sich fast gesetzmäßig die Kronenzeitung erklären würde, in Frage zu stellen.

Amtlich heißt die 1987 für den Personenverkehr wiedereröffnete Vorortelinie S 45. Die Strecke von Hütteldorf durch die «Vororte» nach Heiligenstadt und weiter zum Handelskai wird in einer knapp halbstündigen Fahrt absolviert. Die Liniennummer entstand auf Vorschlag von ÖBB-Mitarbeitern: Die Strecke verbindet nämlich die S 40 auf der Franz-Josefs-Bahn und die S 50 auf der Westbahn. Die S 45 gilt in Fachkreisen aufgrund ihrer Steigungen, ihrer engen Kurvenradien, ihrer Tunnels und Viadukte als Bergbahn. Die Ausfahrt vom Bahnhof Hernals hinauf nach Gersthof, ebenso die Passage durch den Türkenschanzpark im 18. Bezirk sind selbst für Menschen, für die diese Abschnitte hin und retour zum Alltag zählen, schöne Stadterlebnisse. Die Querung des Türkenschanzparkes durch die Vorortelinie ist kein Anschlag auf den Park, sondern eine Verneigung vor dem Park. Die Passage aus Elfriede Jelineks Internet-Roman «Neid» richtet sich gegen alle Klischees von der Feindlichkeit, die zwischen Stahl (als Metapher für den Industrialismus) und der Natur herrsche, warum soll man diesen Text nicht auch auf die Vorortelinie münzen:

Doch die Schienen liegen da, freundlich und still, manchmal glitzernd im Regen. Ihnen ist es egal. Sie nehmen es, wies kommt. Sie geben es, wies geht. Stahl als Inbegriff von Treue zum Standort, zum Boden, über den er führt, in zwei parallelen Linien, bis zum Horizont? Der Stahl, über den so viele hinweg fliegen, in der Luft, der Stahl, über den sie hinwegrollen, die Räder? Der Stahl der Eisenbahnschienen? Ja, sie werden immer noch gebraucht, und diejenigen, die schon da waren, sind immer noch in Gebrauch. Die Gegend nimmt sie sanft und offen auf, diese Schienen, und inzwischen gehören sie zur Landschaft, als wären sie hier gewachsen. Doch er wurde erzeugt, der Stahl, am liebsten würde ich ihn mit einem Wald vergleichen, der ja auch einmal gesetzt wurde und jetzt, da er gesetzter geworden ist, für immer, zumindest bis er geschlägert wird, hier wohnt, als wäre er nie nicht gewesen. Die Schienen liegen hier, als hätten sie nie erzeugt worden sein müssen. Der Wind streicht über den Stahl, den Menschen gemacht haben. Sie konnten damals etwas dafür. Sie bekamen damals etwas dafür. Sie konnten den Stahl erschaffen, der jetzt so natürlich hier liegt wie ein Stern, der allerdings steht, am Himmel, während die Landschaft unter dem Sturm wie Wellen wogt. Auf ihrem weißen Bett aus Schotter gehen sie nun weiter, die Schienen, die Eisenbahnschienen, und sie führen uns, nein, sie führen unter uns davon, in die Ferne, wohin wir auch müssen, denn der Zug verlässt seine Schienen nur selten und nur, wenn er muss.

Als der Journalist Uwe Mauch für seine «Lokalmatador»-Porträts im Augustin  den Ex-Eisenbahner Franz Deim interviewte, traf er auf einen Menschen, der das Objekt des Begehrens mit Jelinek teilte. Allerdings brauchte er dazu Zeit. Die Vorortelinie wurde – baukulturelles Erbe hin, Otto Wagner her – in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts völlig vernachlässigt, und als Mitte der 1980er Jahre die Idee aufkam, die Vorortebahn zu revitalisieren, griffen sich die Eisenbahnerkollegen, so Deim, auf den Kopf: «Was wollen die mit dieser Geisterbahn? Die Gleise waren völlig verwildert, und die Bahnhöfe haben ausgesehen, als hätten dort eben erst Bomben eingeschlagen!» Auch das, was er geschichtlich in Bezug auf die Bahnstrecke wusste, war keine Werbung für die Bahn: Die Vorortelinie ist insofern ein Wiener Spezifikum, als ihre Idee auf das Revolutionsjahr 1848 zurückgeht. Und diese Idee war gar nicht so edel: «Die erste Bahnstrecke wurde nicht für, sondern gegen das Volk gebaut. Gegen Revolution! Das Kaiserhaus wollte sich für neuerliche Aufstände besser rüsten. Schneller als zuvor sollten hier Truppen und Kanonen transportiert werden», erläutert der pensionierte Eisenbahner. In der Praxis blieb der Vorortelinie dieser konterrevolutionäre Missbrauch erspart, aber auch des zivilen Gebrauchs konnte sie sich nicht lange erfreuen. Nach Ende des Ersten Weltkrieges musste der Betrieb wegen Kohlemangel eingestellt werden. In den 1920er-Jahren wurden die Wiental-, Donaukanal- und Gürtellinie der Stadtbahn von der Stadt Wien übernommen, nicht jedoch die Vorortelinie. Sie blieb in ÖBB-Hand. Für die auf der Vorortelinie eingesetzten EisenbahnerInnen ist diese Bahnstrecke wie eine Insel im ÖBB-Ozean. Franz Deim verwendete im Interview Ausdrücke, die  von einem gewissen Stolz künden, einen ganz besonderen Arbeitsplatz zu haben «Wir sind von der Vororte. » Oder: «Dort bist du mit jedem zweiten Schotterstein per du.» Oder: «Wir sind von der Berg-Tramway.» Die S 45 ist eine der wenigen «Nebenbahnen», deren Benutzung im vergangenen Jahrzehnt attraktiver wurde. Im Dezember 2007 wurde hier der 15-Minuten-Takt zur Hauptverkehrszeit auf 10 Minuten verdichtet, seit Dezember 2012 gilt das 10-Minuten-Intervall Montag bis Freitag auch tagsüber.

PendlerInnen, Eisenbahnfreunde, kritische StadtplanerInnen und Schiene-statt-Straße-AktivistInnen sind überzeugt, dass der gegenwärtige Zustand suboptimal ist. Wenn sie auf einen Wiener Verkehrsnetz-Plan blicken (und das tun sie oft, denn die große Reform des Verkehrssystems ist ihr Hobby), ist ihnen zum Weinen und zum Hoffen zugleich zumute. Es ist eine Karte der verpatzten Chancen und zugleich eine Hymne an die  Schiene. Das Schienennetz ist, trotz aller Vernachlässigung durch die Politik und dank der Genialität von Ingenieuren und Planern der Bahnpionierzeit immer noch so ausgebaut, dass sich mit der Verlängerung der S 45 zur Reichsbrücke, dann weiter über den Praterkai zum Südbahnhof oder über Kaiserebersdorf - Oberlaa - Meidling - Speising nach Hütteldorf die Möglichkeit eines Schnellbahnrings ergäbe. Die Vision von der durchgehenden Ringbahn um die Stadt ist keineswegs neu. Vorbild für das Konzept könnte die Berliner Ringbahn sein. Erst seit einigen Jahren führt wieder ein kompletter S-Bahn-Ring um die Stadt, welcher täglich von mehr als 400.000 Fahrgästen benutzt wird. Natürlich sind die Größenverhältnisse zwischen Wien und Berlin unterschiedlich, die Grundidee, bereits am Stadtrand Umsteigeknoten zu errichten, würde aber auch bei uns erfolgreich sein. Thomas Stadlers Verkehrsblog http://wiener-sbahn.at ist in dieser Hinsicht sehr aufschlussreich.

Trotz der Akzeptanz der S 45 und der Fahrgastfrequenz, die man in der ÖBB gar nicht erwartete, als der Betrieb aufgenommen wurde, trifft man in Wien auf viele Vorortelinie-Muffel, die von dieser Sorte Öffis keine Ahnung haben und sich daher wundern, über welche Eisenbahnbrücken sie fahren, wenn sie westwärts stadtauswärts unterwegs sind. Als Ausgangspunkt und/oder Endpunkt der S 45-Kennenlern-Aktivitäten ist die Haltestelle Gersthof empfehlenswert. Nicht nur, weil man einen frühen Otto Wagner studieren kann, sondern auch wegen zwei liebenswürdigen Cafés. Das eine, das Café Mocca, sperrt schon um sieben auf; es befindet sich direkt im Stationsgebäude. Die Publikumsmischung aus Studierenden, KünstlerInnen und alten Haudegen, das tschechische Velkopopovicky Kozel vom Fass und der große schattige Gastgarten an der Bahndammmauer sind Süchtigmacher. Sein Interieur besteht aus Originalteilen des ehemaligen Café Haag in der Innenstadt. Sogar eine eigene Zeitung hat das Café, die zwölfseitige «Unbotmäßige Mocca-Zeitung». Das andere Lokal liegt auf der gegenüberliegenden Seite der Gersthoferstraße. Es ist das legendäre Café Stadtbahn (ab 17 Uhr, sonntags geschlossen) mit seinen Plakaten aus den 70er Jahren, mit seinen Rauchschwaden, die die Sicht auf den Grind erschweren, und mit seiner im übrigen Währing ausgestorbenen Musik: Tom Waits, Led Zeppelin, Leonard Cohen …

Robert Sommer


INFO-BOX


Otto Wagner: http://de.wikipedia.org/wiki/Otto_Wagner
Elfriede Jelinek: http://www.elfriedejelinek.com/
Thomas Stadlers Verkehrsblog: http://wiener-sbahn.at

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19  Karl-Marx-Hof

Eine Art Heiliger, aber rot

Die Zentrale der Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main und der Karl Marx-Hof in Wien haben nichts miteinander zu tun. 99 von 100 Befragten würden so antworten. 99 Prozent würden mit dieser Antwort falsch liegen. Den beiden Gebäuden, das eine aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, das zweite aus dem ersten Viertel des 21. Jahrhunderts, können zwei Charakteristika zugeschrieben werden, die ident sind. Beide sind global beachtete Hervorbringungen innovativer österreichischer Architektur – und beide signalisieren das Verschwinden des utopischen Gehalts aus dem jeweiligen architekturpolitischen Ursprungskonzept. Meine Prognose: in 50 Jahren wird der Prix-Wolkenkratzer ein No Name unter der mehr als 150 Meter hohen Massenware sein, während der 1.400 Wohnungen umfassende Bau des Otto Wagner-Schülers Karl Ehn in Wien-Heiligenstadt endgültig zum Mekka der Architektur-und Sozialismusversteher geworden sein wird. Weltweit.

Architektur muss geil sein und fetzen, sagte einst Herr Wolf D. Prix, der zusammen mit Helmut Swiczinsky die sich als avantgardistisch verstehende Architektengruppe Coop Himmelb(l)au gründete, die in den letzten beiden Jahrzehnten zum prominentesten Architekturexport Österreichs heranwuchs. Zuletzt baute der Global Player aus Wien den Palast seines «Feindes»: die Zentrale der Europäischen Zentralbank. Auch eine 68er-Geschichte...

«Wir haben keine Lust, Biedermeier zu bauen (…) Wir wollen Architektur, die mehr hat. Architektur, die blutet, die erschöpft, die dreht und meinetwegen bricht. Architektur, die leuchtet, die sticht, die fetzt und unter Dehnung reißt. Architektur muss feurig, glatt, hart, eckig, brutal, rund, zärtlich, farbig, obszön, geil, träumend, vernähend, verlernend, nass, trocken und herzschlagend sein. Wenn sie kalt ist, dann kalt wie ein Eisblock. Wenn sie heiß ist, dann so heiß wie ein Flammenflügel.» Österreichs Stararchitekt Wolf D. Prix referiert auch heute noch gerne seine Statements von damals, zum Teil sind sie mehr als 40 Jahre alt und von bemüht dialektischer Poesie. Er referiert sie, weil er den Medien, die ihm allesamt ohnehin huldigen, «einidruckn» will, dass er noch immer vom Geist des 68er-Revoluzzertums durchdrungen sei; selbst (oder insbesondere) sein 180 Meter hoher und 1,2 Milliarden teurer EZB-Turm in Frankfurt am Main sei ein Ausdruck der Kontinuität seiner «nicht angepassten» Architektur.

Die Bosse der EZB lieben eine aufs Ästhetische reduzierte Rhetorik, denn sie lenkt davon ab, dass für sie der Coop  Himmelb(l)au-Turm eine Demonstration ihrer Machtstellung in Europa ist, genauso wie die Schwedenplatz-Skyline gegenüber der Wiener City eine Machtdemonstration der Raiffeisengruppe ist.  Während die Gemeindebauten des Roten Wien sowohl Mittel zur Lösung der Wohnungsprobleme als auch Machtdemonstrationen der in Wien scheinbar unbesiegbaren Sozialdemokratie waren, lösen die heutigen Wolkenkratzer keines der urbanen Probleme (im Gegenteil) und sind immer in erster Linie Machtdemonstrationen. Sie gehören Investorengruppen, Konzernen und Banken und sind nie Gemeindebauten. Sie sind grundsätzlich nie errichtet worden, weil eine BürgerInneninitiative ein Hochhaus wollte. Hochhäuser kommen nie von unten.

Sie sind nie neutral, schon gar nicht, wenn sie sich als gläserner Phallus, Symbol für die Rolle der Europäischen Zentralbank bei der Unterwerfung der Politik, gegen das Himmelblau strecken. Neben der Europäischen Kommission und dem Internationalen Währungsfonds bildet die EZB jenes als «Troika» bekanntes Machtzentrum, das heute die Regierungen Griechenlands, Portugals und Spaniens kontrolliert und morgen alle europäischen Systeme außerhalb des Merkelismus. Prix, ein Geschöpf der 68er Revolte, kennt die Rolle der EZB. Deshalb «verhöhnt» er sie ja mit seiner Turmarchitektur, wie der raffinierten «Zeit» aufgefallen ist. Noch ein paar solche Verhöhnungen, und die EZB wird ihre Kolonialisierung der «Schuldnerstaaten» beleidigt ad acta legen.

Die Coop Himmelb(l)au, aus dem subkulturellen Rand des Aufruhrs der 60er Jahre kommend, ist nicht wie die meisten der populären Ex-RebellInnen in der Mitte der Gesellschaft angekommen, sondern an einem oberen Punkt in der dritten Dimension. Gern erzählt Prix von oben – ob er das EZB-Zentrum eröffnet oder die Münchner BMW-Welt oder das neueste Vorzeigeprojekt in China –, dass sich seine Architektengruppe, «die immer ihrer Zeit voraus war», am 8. Mai 1968 gegründet habe, am Tag der Massendemonstration der Pariser StudentInnen. Sein Credo damals wie heute: Das Ziel der COOP Himmelb(l)au-Architektur sei, die Kraft der Gitarren von Hendrix, Richards oder Clapton in Architektur zu übersetzen.  Im Gründungsmanifest, einer Hommage an die Unruhe, starteten die Avantgardisten einen Angriff auf den gefälligen Architekturdurchschnitt. Ihr Prinzip des Aufhebens, Auflösens, Brechens, Stehlens und Neuinterpretierens klassischer Elemente der Architektur zugunsten eines aufregenden Raumerlebnisses verschaffte ihnen die Ehre, zu den Dekonstruktivisten der Architekturbewegung gezählt zu werden.

Man konnte tatsächlich von einer Bewegung sprechen. Neben Coop Himmelb(l)au waren damals die Leute von Zünd-Up und von der Haus-Rucker Co aktiv. Alle drei Gruppen arbeiteten sehr oft in Grenzbereichen zwischen Architektur und Aktionskunst. In ihren ersten Projekten überprüften Coop Himmelb(l)au Signalübertragung, Musik und aktuelle Technologien im Hinblick auf ihre raumbildenden Qualitäten und um mögliche bewusstseinserweiternde Wirkungen der Architektur. Ihre revolutionären Projekte aus dieser Epoche tragen Namen wie «Die Wolke», «Unruhige Kugel» oder «Soul Flipper». Statt Banksterwolkenkratzer konzipierten sie aufblasbare Häuser für ihresgleichen als Wohn- und Lebensutopien für eine neue Zeit. Die Gruppe wollte sich aus der «Zwangsjacke des Funktionalismus» (Prix) emanzipieren, der zu Beginn der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts die Bauwelt dominierte.

Längst ist Coop Himmelb(l)au zu einer internationalen Marke mit zahlreichen MitarbeiterInnen und Büros in Wien und Los Angeles herangewachsen. Laut Qualitätsmedien zählen sie zu den Coolsten der global aktiven ÖsterreicherInnen, nur selten finden sich hier kritische Stimmen, nach denen Wolf D. Prix keine grundlegenden Neuerungen mehr erreiche, und ebenso selten wird ihm eine Verwässerung seiner Grundideen übel genommen. Prix’  Genosse Helmut Swiczinsky hat sich 2001 aus dem Business zurückgezogen.

Peter Noever organisierte 1992 im Museum für angewandte Kunst ein Symposion unter dem Titel «Architektur am Ende?». In dessen legendärem Katalog gibt es ein Vorwort des amerikanischen Architekten Frank Gehry, wo er sich über die revolutionäre Rhetorik von SymposionsteilnehmerInnen wie Zaha Hadid und Coop Himmelb(l)au Gedanken macht: «Ich kann mich daran erinnern, genauso gedacht zu haben wie sie, aber jetzt stellen sich die Dinge einfacher dar. Ich bin Architekt geworden, weil ich bauen wollte, und um bauen zu können, muss ich innerhalb des gesellschaftlichen Systems bauen(...) Ich bin letzten Endes zuversichtlich, dass alle die heute so rebellischen Kollegen Aufträge erhalten und wunderbare Bauten errichten werden, und nicht herumsitzen und sich Gedanken über das Ende der Architektur machen müssen.» Diese Prophezeiung vor 20 Jahren hatte Klasse.

Etablierter als die österreichische Weltmarke Coop Himmelblau ist heute nur die Marke Karl Marx-Hof. Sie ist ihrem Namenspatron zum Trotz etabliert, war im Juni 2014 in einem Essay der Neuen Zürcher Zeitung zu lesen. Zum Trotz? Mit Fortschreiten der kapitalistischen Krise wächst der Hype um Karl Marx, dessen schwächste Analyse des Kapitalismus genialer ist als die beste Länderspielanalyse Prohaskas. Aber im Grunde hat die NZZ recht: nicht in die Marx-Geburtsstadt Trier, sondern zur Ikone des «Roten Wien» strömen die TouristInnenmassen, denn der Karl Marx-Hof ist längst Fixpunkt jedes Wien-Tourismus, der mehr bieten will als Schönbrunn plus Dritter Mann plus Lipizzaner. TouristInnen, die sich theoretisch auskennen, was den (irreversiblen?) Weg der Sozialdemokratie von der Hoffnung des Proletariats zur brutalen Abtreibung jeglicher Aspekte des «Prinzips Hoffnung» betrifft, können diese sozialdemokratische Wende beschnuppern.

Sie müssen gar nicht über alle Maßen aufmerksam sein, um im Karl Marx-Hof auf Zeichen des Utopieverlustes zu stoßen. Auch der NZZ-Essayist ist unmittelbar fündig geworden:

«Wähler zu gewinnen, ist nützlich und notwendig, Sozialdemokraten zu erziehen, ist nützlicher und notwendiger», sagte Viktor Adler, der Gründer der Österreichischen Sozialistischen Arbeiterpartei. Das Vorhaben dürfte nur teilweise geglückt sein: Im idyllischen Innenhof des Karl Marx-Hofs, in dem akkurat gestutzte Rasenflächen, penibel gepflegte Rosenbeete und von Gartenzwergen bevölkerte Loggien eine etwas kleinbürgerliche Behaglichkeit ausstrahlen, ist von Solidarität und Internationalität keine Rede. Spricht man Bewohner auf ihre Lebensqualität an, dreht sich gleich alles um die «Ausländer». Eine ältere Frau, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will, schimpft beinahe klischeehaft über die schlechte neue Zeit; sie lebe längst in einem «Balkanhof». Dass der schwarzhaarige Mann mit slawischen Akzent, der während unseres Gesprächs am Eingangstor vorbei kommt, freundlich «Grüßgott» sagt, erleben sie zum ersten Mal.
(Georg Renöckl, NZZ 2. 6. 2014)

Dass sich das großbürgerliche Qualitätsblatt an der Mutation der ProletarierInnen, die1934 durch die Kanonen des Bundesheeres zur Flucht aus dem Karl Marx-Hof gezwungen waren, in gartenzwergpflegende Kleinbürger_innen stößt, bedient seinerseits ein Klischee. Auf rätselhafte Weise treffen JournalistInnen immer entweder auf kluge, alles-auf-den-Punkt-bringende Taxifahrer oder auf Frauen, die anonym bleiben wollen, die zu fiktiven Sprachrohren der Stereotypen werden. Weil ein Karl Marx-Hof-Urgestein niemals «Grüßgott», sondern stets «Guten Tag» sagen würde, ist der fiktive dunkelhaarige Nachzügler überangepasst.

Einmal hab ich vom Balkon einen Opa mit seinem Enkerl belauscht, die gerade am Karl-Marx-Hof entlang gingen. Auf die Frage, warum die Anlage Karl-Marx-Hof heiße, antwortete der Opa: "Da Karl Marx war der Heilige von die Roten, und darum heißt´s da auch Heiligenstadt." (Zitat aus "Der Karl-Marx-Hof" von Susanne Reppé, Picus Verlag).

Man könnte also auch, abseits der Welt der Klischees, auf Karl-Marx-HofbewohnerInnen treffen, die sich positiv auf die rote Geschichte des berühmtesten unter den Wiener Gemeindebauten beziehen: mit Stolz, doch gleichzeitig, wie in diesem Fall, mit Schmäh und Augenzwinkern. Der von der Schweizer Zeitung konstruierten «Gesamtmieterin», die sofort an die «Tschuschen» denkt, wenn man sie über die Lebensqualität befragt, stehen konkrete GemeindebaumieterInnen gegenüber, denen Solidarität kein Fremdwort ist und denen die Gartenzwergkolonie durchaus kein Favorit unter den Populationen des Marx-Hofes ist. Manche schämen sich fremd wegen der rotmützigen Gipsheiligen aus der heidnischen Epoche.

Widerspiegelt(e) der Umstand, dass man d e n Paradebau des Roten Wien bezog, sich im Bewusstsein der Wohnenden? Kompensierte das (imaginäre?) Privileg, im Karl-Marx-Hof zu wohnen, die doch relativ beengten Wohnverhältnisse (die durchschnittlichen Wohnungen waren 45 Quadratmeter groß, in ihnen lebten Familien, die im Schnitt doppelt so groß waren wie die heutigen Familien)? Fühlte man sich als Karl Marx-Hof-BewohnerIn als Teil einer Elite? Was bedeutet es heute, in einem Vorzeigeobjekt zu wohnen? Wie lebt man in einem Denkmal? Die Antworten darauf sind so unterschiedlich wie die aktuellen Mieter.

Es stimmt, das Ausmaß der Standardwohnungen (heute ist ein Teil von ihnen zusammengelegt) war relativ bescheiden. Aber im Vergleich zu den Löchern, die die neuen Gemeindebaumieter hinter sich ließen, gab es im Karl-Marx-Hof Traumbedingungen. In Susanne Reppés Buch über den Karl-Marx-Hof gibt es viele Angaben zur Wohnungsnot in Wien nach dem Ersten Weltkrieg. 1919 hatten nur 85 Prozent der Wohnungen eine Küche. 92 Prozent aller Wohnungen hatten das Klosett am Gang. 95 Prozent hatten die Wasserleitung am Gang. Nur sieben Prozent hatten elektrisches Licht. Da der Baugrund bis auf 15 Prozent verbaut wurde, gab es keine Höfe, in denen die Kinder spielen konnten. Die durchschnittliche Miete einer Arbeiterwohnung war höher als der Wochenlohn eines unqualifizierten Hilfsarbeiters, daher waren viele Familien gezwungen, zusätzlich «Bettgeher» aufzunehmen. In den Arbeiterfamilien hatte die Hälfte der Menschen kein eigenes Bett. Dass sich «Zimmer-Küche-Kabinett» das Arbeiterehepaar, drei Kinder und ein Bettgeher teilten, war die Regel.

In der «revolutionären» Phase des Karl-Marx-Hofes, bis 1934, war Kurt Treml ein Gschrapp im Vorschulalter. Die Frage, ob die Karl-Marx-Hof-Adresse als besonders ehrenhafte Adresse galt, oder ob im Bewusstsein der ersten Mieter Gemeindebau gleich Gemeindebau war, müsste man also an ältere Zeitzeugen richten. Herr Treml war sozusagen the next generation. Er stellte mehr dar als nur einen stolzen Karl-Marx-Hof-Mieter. Er war die Seele des Hofs. Er starb 2012, und ich bin froh, dass ich diese «Legende» des Gemeindebaus noch kennen lernen durfte. Er erzählte mir über seine Funktion als profaner Beichtvater des Gemeindebaus und über seinen Kampf dafür, dass die Mieten auch nach der Generalsanierung Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre erträglich blieben.

«Da gäb´s an Aufstand», sagte Kurt Treml auf die Frage, was passieren würde, wenn demnächst eine bürgerliche Rathausmehrheit auf den Gedanken käme, den roten Superblock umzubenennen (zum Beispiel in «Heiligenstädter Hof», wie er schon in der Nazizeit hieß). Für wie viele Mieter wäre die Sache wirklich einen Aufstand wert? Wir werden es hoffentlich nie wissen können. Einer wäre beim Aufstand gern dabei. Der Künstler Kurt Neuhold wohnt auch schon seit Beginn der 80er Jahre im Karl-Marx-Hof. Zunächst kokettierte er bloß mit der Adresse: Was kann einem jungen Linken besseres passieren, als mit Karl Marx zu sein? Später, sagt Neuhold, habe er begonnen, sich auf den Karl-Marx-Hof – als Nachbar, als politisch denkender Mensch, als Künstler – einzulassen. Doch das Verhältnis bleibt mehrfach gebrochen. Er blieb am Rande des «Dorfes» (und der dörflichen Intrigen, wie er die verzichtbaren Verdichtungen des sozialen Zusammenlebens im Gemeindebau nennt), und er bewahrt die liebevolle Distanz, die nötig ist, um die Ambivalenzen und Mehrdeutigkeiten der Sozial- und Architekturgeschichte des Karl-Marx-Hofes wahrzunehmen.

Zum Zweischneidigen Ja sagen und Mehrfachdeutungen zulassen. Dazu sollte auch die Ausstellung in der ehemaligen Wäscherei des Karl-Marx-Hofes anregen, die Kurt Neuhold in Zusammenarbeit mit dem Genossen Treml gestaltete (und, weil sie als work in progress konzipiert war, auch in Zukunft weiter gestalten wollte). Ein Abschnitt über die «Arisierungen» von Gemeindewohnungen am Beispiel des Karl-Marx-Hofes – um ein solches Thema hätten Ausstellungsgestalter bei früheren Jubiläen einen weiten Bogen gemacht – führte bald zu jenen erregten Debatten, die Neuhold im Grunde seines Herzens liebt. Aber auch andere Bereiche der Ausstellung sollten Nachdenkimpulse liefern. Als Neuhold die Nachbarschaft einlud, Gegenstände aus der Geschichte des Wohnens im Gemeindebau zur Verfügung zu stellen, um die Ausstellung wachsen zu lassen, schwebte ihm als Endzustand das Gegenteil eines herkömmlichen «Heimatmuseums» vor. «Das alte Stück ist willkommen, wenn es Zusammenhänge sichtbar macht und wenn von ihm aus der Versuch gemacht werden kann, das Jetzt begreifbar zu machen».

Ein «Heimatmuseum» schweigt und ist tot und leer, auch wenn es noch so voll mit alten Stücken ist. Doch als ein Mieter, wie man mir berichtete, den Gemeindebau-Aushang «Verhütung von Ruhestörungen» aus dem Jahre 1947 in die Ausstellung brachte, sorgte der Künstler dafür, dass Fragen auftauchen. Und daraufhin vielleicht auch Antworten, die nicht ganz zur Netiquette von Jubiläumsfeiern passen. «Lärmende Spiele» sind in der «ganzen Hofanlage» (also auch in den großräumigen grünen Höfen!) verboten; «die Eltern haben die Pflicht, in dieser Hinsicht auf die Kinder erziehlich einzuwirken»; «nach 22 Uhr ist das Singen in den Mieträumen verboten» – was sagt uns diese Obrigkeitssprache der 50 Jahre alten Karl-Marx-Hof-Hausordnung, gegenübergestellt der Revolutions- und Freiheitsrhetorik der Karl-Marx-Hof-Erbauer? War das Rote Wien gleichzeitig eine vorweggenommene Freiheitsutopie und eine Erziehungsanstalt für Untergebenenmentalität?

Kurt Treml gehörte nicht einer Generation an, die sich durch solche Fragen aus dem Gleichgewicht bringen lässt. Erstens, sagte er mir damals, handle es sich hier um eine Hausordnung aus dem Jahre 1947, atme also den autoritären Geist von Austrofaschismus und Nazifaschismus. Aus den roten 30er Jahren könne er sich an derartige Reglementierungsversuche nicht erinnern; er selbst habe als Kind die übliche Freiheit des Kindes genossen. Zweitens, meinte er, gibt es auch heute Verbote, aber jeder wisse, dass jene, die für deren Einhaltung verantwortlich seien, auch wegschauen können.

Ein vergilbter, 50 Jahre alter Papierzettel regt zum Denken an, vielleicht sogar zum dialektischen. Ein Glücksfall. Kurt Neuholds Ausstellungskonzept (zu dem sich später ein Veranstaltungskonzept gesellen sollte, so sein Plan) war offen genug, um weitere Glücksfälle zu generieren. Für den (zuagrasten) Künstler ist diese sehr aktive Art von Auseinandersetzung mit lokaler Geschichte die optimale Form, im Stadtteil persönlich Wurzeln zu schlagen.

Ich schlendere durch den Durchfahrtsbogen im Mitteltrakt des Karl-Marx-Hofes, der den 12. Februar-Platz mit dem Heiligenstädter Bahnhofsgebäude verbindet. Man hat nicht den Eindruck, dass es einem die Stimmung hebt, wenn man dieses Gewölbe passiert. Doch man hat bei Susanne Reppé gelesen, wann es Stimmung gab: damals jeden Sonntag nämlich, wenn auf der Hohen Warte die Vienna kickte und bis zu 40.000 Menschen, vom S-Bahnhof zum Fußballplatz unterwegs, durch die Bögen zogen, die damit zu Triumphbögen des Wiener Proletariats wurden. Und sie wurden nicht zufällig zu solchen. Die Planer hatten sich bewusst diesen Umstand zunutze gemacht, um die dominierende Wirkung des Bogens zu unterstreichen. «Was sagt uns das?», meint Neuhold. «Die Kritiker haben recht, wenn sie den Vorwurf machen, der Karl-Marx-Hof sei Missbrauch der Architektur für politische Propaganda. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Der Karl-Marx-Hof war vor allem Ausdruck einer sozialen Utopie: Paläste für jene Klasse, für die es bisher nur Hütten gab.»

Kurt Treml, der alte Sozi, und Kurt Neuhold, der junge Künstler, waren ein ideales Duo. Ihr Projekt einer lebendigen, wachsenden, demokratischen, partizipatorischen, antifaschistischen Karl-Marx-Hof-Ausstellung im ehemaligen Waschsalon der Gemeindebauanlage (Eingang Halteraustraße) hätte den Bonus der doppelten Perspektive ausspielen können: die Sicht des Künstlers, synthetisiert mit der Sicht des Mietervertreters und Langzeitbewohners. Der städtischen Wohnhäuserverwaltung und der Stadtregierung hätten nichts Schöneres passieren können als eine Selbstorganisation der Erinnerungsarbeit, ein nicht von außen aufgezwungenes, sondern ein aus dem Inneren des Superblocks heranreifendes Verantwortungsbewusstsein. Die Stadtverwaltung hat es aber dann abgelehnt, mit «Unabhängigen» zusammen zu arbeiten. Tremls und Neuholds Aufbauwerk wurde als nichtig erklärt. Der Waschsalon, den die beiden wachgeküsst hatten, wurde zum offiziellen «Rotes Wien»-Museum der Partei. Die Dauerausstellung im Waschsalon ist nichtsdestotrotz empfehlenswert. Aber sie verzichtet darauf, Fragen zu stellen, die auf die Tragik der Geschichte der Sozialdemokratie verweisen. Eine dieser Fragen lautete: Warum ist der SP nie etwas anderes eingefallen als den Kapitalismus zu retten? Und ist nicht auch das Wohnbauprogramm des Roten Wien für dieses übergeordnete Rettungsprogramm funktionalisiert worden? Ich muss mir noch viele Diskussionen über das «Rote Wien» anhören, bevor ich mir anmaße, solche Rätsel zu lösen.

Robert Sommer


INFO-BOX

Das Rote Wien | Waschsalon:
http://dasrotewien-waschsalon.at/

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20  Wallensteinplatz

Die Leere ist demokratisch

Pierre-Jules Hetzel, der sich auch P.J. Stahl nannte, war sicher etwas, wofür es damals (um die Mitte des 19. Jahrhunderts) noch keine Bezeichnung gab: ein Urbanist, und zwar ein leidenschaftlicher. Bekannt wurde er durch seine verlegerische Tätigkeit. Er verbreitete die Bücher von Jules Vernes, Victor Hugo, Honoré de Balzac und Émil Zola. Er kannte sich aus mit den «Gesetzen» des großstädtischen Flanierens, zu dem ja die meisten «seiner» Autoren Fachkundiges zum Besten oder zum Schlechteren gaben.  Wenn ich ihn richtig verstanden habe, meint Hetzel, dass man neben den Flaneur den «Vorübergehenden» als zweiten Grundtypus des nichtfahrenden Stadtbenützers stellen müsse, dass eine Metropole ein richtiges Verhältnis von Vorübergehenden und Flanierenden brauche und dass man die Provinz über das Fehlen dieses Grundtypus des Vorübergehenden definieren könne. Er tue sich schwer, schreibt er im Aufsatz «Die Vorübergehenden von Paris», einem Provinzler zu erklären, was ein Vorübergehender genau sei.

Hetzel doziert: «Ein Mensch, den man kennt, ist kein Vorübergehender. In der Provinz weiß man immer mehr oder weniger, wer der Mensch ist, der vorüber geht, und wohin er geht. Der Flaneur, also jemand, der spazieren geht, hat die Miene, überall oder nirgends hinzugehen. Die Flanierenden sind Leute, die sich suchen, und dorthin, wo sie sind, gekommen scheinen, eigens um sich sehen zu lassen. Die Vorübergehenden dagegen sind Leute, die sich begegnen,  aber – soferne sie sich nicht mit dem Ellbogen stoßen – weiter gehen, ohne auch nur zu bemerken, dass sie sich begegneten. Der Vorübergehende ist jemand, der allein ist, und inmitten Aller allein bleibt, sich nicht um sie bekümmert und auch Ihnen gleichgültig ist, vielleicht mit Unrecht, denn jeder Vorübergehende ist ein Geheimnis. Dieser Mann, der da vorübergeht, erwartet vielleicht Ihre Geliebte. Andrerseits: Sie suchen einen Liebhaber. Warum sollte dieser Vorübergehende nicht der sein, den Sie suchen?»

Wenn ich Pierre-Jules Hetzel weiterhin richtig verstanden habe, kann man den Vorübergehenden nur aus der Sicht des Flaneurs beobachten, denn wenn ein ebenfalls Vorübergehender  ihn beobachten würde, wäre er kein Vorübergehender mehr. Aber jeder Vorübergehende kann sich in einen Flaneur verwandeln. Die Großstadt sei insofern viel anregender als das Land, als hinter jedem Vorübergehenden ein Rätsel stecke. Begegnungen mit ihnen zeichnen sich durch eine Offenheit der Folgen aus. Hetzel setzt seine Überlegungen fort: «Paris ist eine Weltstadt, wo man hinsichtlich eines Vorübergehenden die größte Zahl von  Mutmaßungen haben kann. Für eine Frau etwa ist ein Vorübergehender ein Mann, der sie anblickt oder der sie nicht anblickt, eine Beleidigung oder ein Kompliment, bisweilen beides. Ist es eine Beleidigung, wozu nützt es, darüber zu sprechen? (…) Für einen Geschäftsmann, der zu seinen Angelegenheiten eilt (also ebenfalls ein Vorübergehender ist, R.S.), ist der Vorübergehende nur ein materielles Hindernis. Für einen Menschen in schlechter Laune ist ein Vorübergehender ein Feind. Für einen verliebten Menschen ist ein Vorübergehender nichts. Für einen Philosophen ist ein Vorübergehender ein Bruchteil seines Systems.» In revolutionären Situationen können die von einander isolierten Vorübergehenden sich gruppieren und entdecken, dass sie eine politisch relevante Zahl sind, fügt Hetzel zum Schluss dazu.

Meine These: Großstädtische Plätze sind als lebendig wahrzunehmen, wenn  das Verhältnis zwischen Flanierenden und Vorübergehenden stimmt; ich weiß nicht, ob man das in einer Formel ausdrücken kann. Der Stephansplatz ist trotz seiner ungeheuren Touristenmassen tot, weil die Dominanz der FlaneurInnen über die Vorübergehenden notorisch ist. Für den Fall des Reumannplatzes (siehe Essay 10. Bezirk) möge jede Leserin, jeder Leser selbst zu einem Urteil kommen. Der Wallensteinplatz – um endlich beim eigentlichen Thema anzukommen – strahlt für mich, der ich hier gerne flaniere (am liebsten sitzend), positiv aus, weil weder die Vorübergehenden über die SpaziergängerInnen, noch die SpaziergängerInnen über die Vorübergehenden triumphieren. Der zweite Grund, warum ich den Wallensteinplatz mag, ist seine konstitutionelle Leere. Das mag paradox klingen und im Gegensatz zum vorher Gesagten stehen. Aber die Voraussetzung, dass ein  Platz sowohl von Flanierenden als auch von Vorübergehenden belebt wird, ist seine prinzipielle Leere.

Es gibt Menschen, die mit Leere in ihren eigenen vier Wänden nichts anfangen können, die ihre Wohnungen mit brauchbarem und unbrauchbarem Zeug anfüllen, als ob sie ihre innere Leere kompensieren müssten; die jedes Zimmer zu einem Kitschmuseum machen, in dem sie die Vorstellung, dass man sich gelegentlich auch von einem Ding trennen könnte, aus Luftmangel nicht mehr denken können. Es gibt, umgekehrt, Menschen, die leere Wohnungen lieben, die sie nur mit dem Nötigsten ausstatten, die schon den Teppich auf dem Parkettboden als überflüssigen Barock ablehnen, die bereits jede Gondel aus Venedig, mit der sie beschenkt wurden, ohne Zögern, sogar mit Lust, entsorgt haben. Ausgeräumte oder voll gestopfte Wohnungen: Das sind private Vorlieben, antagonistische Geschmäcker, das geht niemanden was an.

Es gibt Menschen, die dem alten Wallensteinplatz nachtrauern. Er war so angefüllt mit Behübschungen und weniger Hübschem, er war so verstellt, dass man nicht merkte, an einem Platz zu sein. Es gibt Menschen, die den Platz mochten, weil er kein Platz war, sondern ein Leeretöter mit Blumenbeet. Ausgeräumte oder voll gestopfte Plätze: Das ist keine Geschmacksfrage. Das geht uns was an. Es geht um die Frage Stadt oder Nichtstadt. Ein Blumenbeet schafft keine Urbanität. Ein leerer Platz kann Urbanität schaffen.

Eine These: Was Stadt sein will, braucht ein öffentliches Zentrum in Form einer physisch leeren Mitte, die potentiell mit 1001 Bedeutungen gefüllt werden kann. Mit Bedeutungen, nicht mit Befestigungen! In Wien gibt es manche «Städte in der Stadt» – dort, wo es regionale leere Mitten gibt, auf die sich die Umgebung beziehen kann. Der inneren Brigittenau fehlte dieser die Urbanität generierende leere Kern, die Menschen mussten sich an fremden Zentren orientieren. So betrachtet bedeutete der neue Wallensteinplatz die Stadterhebung der Region zwischen Wallensteinstraße und Augarten. Stadterhebungen sind imaginäre Ereignisse, die aber die Chance in sich bergen, etwas auszulösen, was sonst nur mit hundertfachem Energieaufwand ausgelöst werden kann. Schon die Selbstwahrnehmung eines sich selbst zur Stadt erhebenden Raumes ist ein Impuls zur kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung des Grätzels.

Ein leerer Platz ist jedoch keine g´mahte Wiesn. Die physische Entleerung der Mitte bedeutet das Erfinden der Stadt, doch die Leere ist immer bedroht. Die Leere ist beunruhigend, als müsste sie ständig mit etwas gefüllt werden. Man muss den Platz vor Monokulturen jeder Art schützen. Die physisch leere Mitte erlaubt zwar sofort ein beeindruckendes Stadterlebnis, aber sie schafft ständig Begehrlichkeiten, die auf eine Negation der Leere hinauslaufen.

Die «leere Mitte» eröffnet einen Raum für die Besetzung mit Symbolen, Demonstrationen der sozialen Verhältnisse und unendlich viele Erzählungen. Der ideale öffentliche Platz wird immer wieder neu besetzt, hergestellt, ausgehandelt und umkämpft. Der ideale öffentliche Raum erfährt temporär unterschiedliche Nutzungen, er ist nicht durch Stabilität und Kontinuität gekennzeichnet, sondern er ist prozesshaft und situational. Er ist damit ein Verhandlungsraum, materiell und diskursiv umkämpft. Er wird von heterogenen Gruppen oder auch Teilöffentlichkeiten hergestellt, benutzt und verhandelt. Das kontinuierliche Aufeinandertreffen und Aushandeln von unterschiedlichen Interessen und Wertvorstellungen, von – auch widersprüchlichen – Bedeutungszuschreibungen, ist das, was öffentliche Räume ausmacht. In diesem Sinn ist die Existenz des öffentlichen Raumes ein zentrales Merkmal und eine Voraussetzung für das Städtische.

Eine «Event- und Spektakelkultur» mit dem Ziel, Kaufkraft zum Platz und in seine Region zu lenken, eine Form der Instrumentalisierung der Kultur für ökonomische Anliegen, ist das Gegenteil des Projekts, den Platz zu sich kommen zu lassen. Nur Plätze, die offen sind für viele Bedeutungen, sind nachhaltig anziehende Plätze – und dass die angezogenen Menschen  a u c h  Konsumenten und damit Faktoren der ökonomischen Entwicklung sind, ergibt sich von selbst.

Menschen, die rund um den Verein Aktionsradius Wien soziokulturelle Arbeit machten, vernahmen die stille Sehnsucht des Platzes danach, zur Mitte einer Stadt zu werden. Es musste eine Stadt sein, die diese Mitte tatsächlich als Chance betrachtet. Das konnte nur eine fiktive Stadt sein. 2005 wurde das Kunst- und Nachbarschaftsprojekt «AugartenStadt» gegründet – mit einer Regierung, in der alle InteressentInnen selbstgewählte ministerielle (bzw. stadträtliche) Ressorts annehmen konnten. Was immer diese Ressorts unternahmen, wurde zu einem Teil eines «work in progress», der immerwährenden «Stadterhebung von unten». Einige dieser neuen Ressorts gingen daran, die Verkehrsflächenbezeichnungen auf dem Territorium ihrer «eingebildeten Republik» zu thematisieren.
Die sich erhebenden BürgerInnen, allen voran «Bürgermeister» Otto Lechner, wollten die vorgefundenen Namen der Plätze und Straßen der Realstadt nicht unhinterfragt in ihre Traumstadt hinüberretten. Sonderbar viele Bezeichnungen des öffentlichen Raumes erinnern an Schlachten, würdigen Feldherrn oder beziehen sich auf andere Art und Weise auf Militärgeschichtliches. Die Zivilisierung der Namen war eines der Themen der ersten Bürgermeisteransprache. Die Magistratsabteilung für Intergalaktische Beziehungen (d.h. das außenpolitische Ressort der AugartenStadt-Verwaltung) schlug in diesem Sinne als Signal-Amtshandlung vor, jene Figuren, die die barbarische und beispiellose Zerstörung der protestantischen Hochburg Magdeburg im Jahr 1631 vorbereiteten (Wallenstein) und exekutierten (Pappenheim), zum Thema einer ungewöhnlichen Auseinandersetzung mit Geschichtsbildern zu machen: War Wallenstein ein «Unsriger»? War Pappenheim «unser» Held? Warum stand «Magdeburg» für das Andere, das Feindliche? Wer bestimmt die Namen der Plätze, die wir benützen?

Mit dem Projekt «Tschuidigung, Magdeburg», das am 21. Mai 2005 mit einem Magdeburgfest am Wallensteinplatz seinen Höhepunkt fand, stülpte sich die «Spinnerei» der TraumstädterInnen unüberhörbar, unübersehbar in die Wirklichkeit des Stadtteils. Ermöglicht wurde das Fest, zu dem 40 Magdeburger Kulturschaffende aus unterschiedlichen Genres plus deren Angehörigen eingeladen wurden und das von tausend WienerInnen besucht wurde, durch eine besondere Chuzpe der imaginären Regierung: Sie suchte um EU-Subventionen für eine Städtepartnerschaft zwischen der AugartenStadt und Magdeburg an – und wurde aus dem Brüsseler Topf zur Förderung transnationaler Kooperationen europäischer Städte reichlich dotiert. Nicht ohne von einer Boulevardzeitung des «Missbrauchs» von europäischen Fördergeldern bezichtigt zu werden.

Der alte Wallensteinplatz, dem so viele nachtrauern, die heute sein «Grün» vermissen, hätte seinem Namensgeber erspart, in seinem Grab zu rotieren. Er hätte dem Fest  der kuriosesten Städtepartnerschaft seit dem Beginn dieser institutionalisierten Form des grenzüberschreitenden Austausches keinen Platz eingeräumt.

Robert Sommer


INFO-BOX

Erreichbarkeit Wallensteinplatz:
Straßenbahn Linie 5, 33, Autobus 5B

Café Vindobona

Adresse: 1200 Wien, Wallensteinplatz 6
Reservierungen unter Tel: 01 512 4742 52
http://www.yelp.at/biz/vindobona-wien-3

Osteria Allora

Adresse: Wien 1200, Wallensteinplatz 5- 6
Öffnungszeiten: Montag - Sonntag, 11.30 - 24 Uhr, Küche tägl. bis 23 Uhr
Reservierungen unter Tel.: 01 350 46 80
http://www.osteria-allora.at/

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21  Rund um den Schlingermarkt

Denkende Arbeiter trinken nicht

Flanieren, wo die Brünnerstraße beginnt, also abseits des «Weltstädtischen»:  von einem Gemeindebau, dessen architektonisches Prinzip ganz unterschiedlich gedeutet wird, über einen Markt, der trotz Triumph der Handelsriesen überleben will, zu einem Branntweiner, der einen Volkshochschulkurs ersetzt.

Am 13. Februar 1934 berichtet Vizekanzler Emil Fey im Österreichischen Rundfunk triumphierend über die Februarereignisse: «Besonders heiß waren die Kämpfe im 21. Bezirk um den Schlingerhof und in der Quellenstrasse im 10.Bezirk. Im Schlingerhof befanden sich 400 Schutzbündler, denen zwei Maschinengewehre und 300 Handgranaten von der Exekutive weggenommen wurden (...) Es handelt sich lediglich nur mehr darum, die letzten roten Verbrecher aus den letzten roten Nestern herauszuholen, und das wird mit aller Strenge durchgeführt werden.»  Im Schlingerhof floss Blut. Nur noch wenige Menschen wohnen in diesem Floridsdorfer Gemeindebau, die davon aus eigenem Erleben wissen. Selbst die Ältesten, die ich heute im Gasthaus Schlingerhof antreffe, sind zu jung, um mir als Zeitzeugen dienen zu können.

Nahezu biedermeierlich, welch ein Kontrast zum Image der «roten Trutzburg», wirkt die dem Schlingermarkt zugewandte repräsentative Hauptfront der 1926 nach Plänen von Hans Glaser und Karl Scheffel fertig gestellten Anlage. Die Hauptfront wird von einem Uhrturm mit einem Turmhelm aus Kupferblech bekrönt – wie ein Fingerzeig, dass auch die Sozialdemokratie eine Art Kirche war. Während die Bürgerlichen die Gemeindebauten als strategische Festungen interpretierten, macht ein Teil der Architekturkritik heute (wie in dem bei «edition selene» erschienen Buch „Real Crime“; Herausgeber: Michael Zinganel) auf eine «gegenteilige» Funktion der Architektur des Roten Wien aufmerksam. Von den Innenhöfen des Schlingerhofs aus – am schönsten ist der erste Hof mit dem Brunnen – fällt der Blick auf die nummerierten Eingänge der Stiegenhäuser. Dass man die Wohnungen nicht von der Straße aus, sondern über den Innenhof erreicht, scheint zunächst banal zu sein – so kennt man es eben von allen Gemeindebauten. Dieses architektonische Prinzip sei Ausdruck der Kontrollobsession der Sozialdemokratie, lautet eine Interpretation. Ein Beobachter habe von seinem Fenster aus – gewollt oder ungewollt – z.B. einen Überblick über die Besuche der NachbarInnen.

So alt wie der Schlingerhof ist der Floridsdorfer Markt, der allgemein als Schlingermarkt bekannt ist, weil er sich eng an den Gemeindebau schmiegt. Es mag bequemer sein, im Billa einzukaufen, wer aber «Situationen» sammeln will, kommt am Schlingemarkt mit seinem – leider schon sehr reduzierten – Branchenmix und seinen Einkehrangeboten auf seine Kosten. Und wer Freitag oder Samstag vormittags den Markt besucht, findet auf der Freifläche neben dem bebauten Teil auch ein paar bäuerliche Selbstvermarkter vor. Die Kronenzeitung meint, die Quelle des BesucherInnenschwunds im «mäßig attraktiven Ambiente» gefunden zu haben; die konservativen Ressentiments gegen die Objekte des Roten Wien scheinen hartnäckig die Polarisierungen aus der Zwischenkriegszeit überlebt zu haben; andernfalls zählte die Kulisse eines «Arbeiterpalastes» nicht zum störenden Ambiente, wie die Zeitung suggeriert. Der BesucherInnenschwund ist freilich Realität; man wird sehen, inwieweit die Bezirksvertretung die Vorschläge einer Studierendengruppe der Wiener Boku aufgreifen wird, die die positiven Erfahrungen bei der Revitalisierung des Hannovermarkts (Wien 20) für den Schlingermarkt fruchtbar machen will. Flohmärkte, Tauschbörsen und Jazz-Brunches ziehen heute zumindest temporär die Menschen aus der Umgebung an.

Der empfohlene Start unseres Flanierens ist das Gasthaus Schlingerhof, das von den UreinwohnerInnen wegen der «Bodenständigkeit» seiner Küche frequentiert wird – eine informelle gastronomische Kategorie, in  der oft eine Distanzierung von der Multikulturalität und Globalität der Restaurantszene Wiens mitschwingt. Nicht als Empfehlung, sondern geradezu obligatorisch endet die Flanerie in Franz Svecenys Likörstube, Brünnerstraße 30. Von ehemals 600 Wiener Branntweinern sind nur noch sechs echte in Betrieb – eines davon ist der Sveceny. So vielfältig die Lokalbezeichnungen sind, die der Wirt oder seine Gäste kreierten (neben Likörstube oder einfach Branntweiner ist auch Bottle Shop oder Promille Boutique in Umlauf), so variantenreich ist der Name der ursprünglich aus Nordböhmen stammenden Familie, die  an dieser Stelle bereits seit 1911 das Branntweinergewerbe pflegt, dokumentiert. Ein altes Schild zeigt, dass zu gewissen Zeiten Annäherungen an die «germanische» Schreibweise angebracht werden: Switzeny.

Wer hier nicht rasch den Wodka oder den Obstler in seine Kehle kippt, sondern ganz auf pomale die vermeintlichen sonstigen Verpflichtungen des Tages vergisst, der oder die kann in dieser Likörstube ganz ohne google und wikipedia seinen Wissensstand vermehren. «Das kleine Geschäft hat folgende österreichische Regierungen überlebt», steht zum Beispiel auf einem Plakat, und darunter die komplette Liste der zunächst monarchischen und dann republikanischen Regierungschefs ab 1865, denn in diesem Jahr war das Vorläufergeschäft auf Hausnummer 30 eröffnet worden. Das kleine Geschäft überlebte also die Auerspergs und die Windischgrätzs, die  Stürgkhs und die Lammasch´, die Renners und die Schuschniggs, die Figls und die Vranitzkys und ... und ... und ... Noch auskunftsfreudiger als die Wände seiner Likörstube ist nur Franz Sveceny selber. Wer es wissen will, dem kann der Chef glaubhaft versichern, dass sein Tschocherl den geografischen Mittelpunkt  der Welt darstellt. Das untergegangene Österreich-Ungarn fasziniert ihn ebenso wie die Geschichte Floridsdorfs. Dass seine Bude auch die Spindies und die Faymännchen überleben wird, wünscht sich das Stammpublikum ganz unabhängig von seiner politischen Lagerneigung.

Apropos Politik. Ich möchte den Lesenden nicht die Geschichte des Wiener Bloggers Herbie vorenthalten. Sie sollte in die Geschichtsbücher hineinreklamiert werden, denn sie sagt einiges über die Moral der österreichischen Politik aus. Es ist die Geschichte, wie der Branntweiner Herbies politische Bildung beeinflusste und wie er Herbies «Achtung vor Politikern nihilierte»:

Zu meiner Studienzeit hat es noch genügend von diesen Branntweinern gegeben. Das waren wirklich die «tiefsten» Lokale, die man sich vorstellen kann: meist nicht größer als eine Zwei-Zimmer-Wohnung, ein großer Tresen, eine Vitrine, drei bis vier Tische und ein Klo. Ich bin noch heute fest davon überzeugt, dass die Wiener Branntweiner-Klos für 80 % der damaligen Ansteckungskrankheiten und Hygieneprobleme verantwortlich waren. Nun, was hatte man also in so einem «Dive» verloren? Ganz einfach - in den 80ern und 90ern, waren das einfach die einzigen Trinkgelegenheiten, die aufgesperrt haben, wenn alles andere zugesperrt hat. 04:00 - 04:30 waren durchaus normale Öffnungszeiten für die Branntweiner, und wenn man gerade so schön am Feiern war, weil man eine Prüfung bestanden hatte oder weil man durchgefallen war, passte das ideal. Man wollte noch nicht ins Bett und ein oder zwei Bacardi/Cola waren noch nötig, um die nötige Bettschwere auch wirklich zu erreichen. Viele dieser Branntweiner waren strategisch günstig an Straßenbahnhaltestellen angesiedelt. Und es war unglaublich, wie viele Leute auf dem Weg zur Arbeit schnell aus der Tram liefen, im Branntweiner ein bis zwei Viertel Rot inhalierten und dann mit der nächsten Tram weiterfuhren. Zum fröhlichen Schaffen!! Ich hatte also gerade eine große Prüfung hinter mich gebracht und war auf «Forschungsreise»: Wie verhindert man am besten einen Kater? Da blieb doch glatt vor dem Branntweiner ein Mercedes stehen (unberechtigterweise), und ein Mann, ca. Mitte 50, Anzug, Krawatte, stieg aus, kam herein und bestellte Espresso mit doppeltem Cognac, dann noch einen doppelten Cognac und dann nochmals dasselbe von Anfang an. Dann noch ein Viertel Rot zum Nachspülen – und weg war er wieder! In nicht mal 15 Minuten 8 Cognac und 1 Viertel, und das um sechs Uhr früh – Habedieehre!!! Am Abend – gerade wieder aus dem Koma erwacht – liege ich vorm Fernseher und schau «Zeit im Bild». Angekündigt wird ein Beitrag über irgendwelche Budgetdiskussionen heute im Parlament; heute Morgen, vor Beginn der Parlamentssitzung, habe man den Herrn Abgeordneten XY dazu interviewt. Der Interviewte kommt ins Bild – und wer lacht mich aus dem Fernseher an? Richtig, der Herr 8 Cognac und 1 Viertel! Der steht also da, ich weiß, dass er blunznfett ist, und er erklärt groß und wichtig, warum dies so, das so und was anderes wieder so sein müsste. Dann sagt er Tschüss und geht ins Parlament – um die Geschicke Österreichs zu lenken. Im Vollrausch. Und ich kann einfach nichts dagegen machen: Seit diesem Tag sehe ich vor meinem geistigen Auge jeden Politiker beim Branntweiner – und es gelingt mir nicht mehr, einen von denen noch ernst zu nehmen.

Nehmen wir an, der Herr 8 Cognac und 1 Viertel ist Sozialdemokrat. Es ist eine Fiktion, die mir erlaubt, zum meinem Ausgangspunkt zurückzukehren: zum Schlingerhof als Teil des Roten Wien. Wer als Schlingerhof-Bewohner zum Branntweiner ging, verstieß gegen ein ehernes Prinzip der österreichischen Sozialdemokratie: «Ein denkender Arbeiter trinkt nicht, ein trinkender Arbeiter denkt nicht». Dieser Satz wird Viktor Adler zugeschrieben, dem Gründervater der Sozialdemokratie. Ihre Jugendorganisation, die SAJ, setzt durch, dass in Österreich an Jugendliche vor dem 16. Lebensjahr in der Öffentlichkeit kein Alkohol ausgeschenkt werden durfte. Es war die erfolgreichste Initiative von Jusos, seit es sie gibt. Dass heute noch in jedem Beisel die Tafel «An Jugendliche wird kein Alkohol ausgeschenkt» sichtbar hängen muss, könnten die heutigen Jusos als historischen Triumph verbuchen –  wenn die Alkoholabstinenz heute als cool gälte. Das tut sie aber nicht, weswegen der Arbeiter-Abstinentenbund, einst auch im Schlingerhof fest verankert, längst verschämt seinen Namen geändert hat («Aktion 0,0 Promille») und zu den unbedeutendsten Sub-Organisationen der SPÖ zählt.

Robert Sommer


INFO-BOX

Erreichbarkeit Schlingerhof/Schlingermarkt:
1221; Brünnerstraße 34 – 38
U6/S-Bahn Station Floridsdorf,
Straßenbahn Linie 30/31, Station Floridsdorfer Markt

Gasthaus Schlingerhof
im Internet
Adresse: 1210 Wien, Brünner Straße 34–38
Kontakt: 01/278 15 66, m.milutinovic@gmx.at
http://www.falter.at/web/wwei/detail/6832/gasthaus-schlingerhof
 

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22  Das Gänsehäufel

Proto-Hippie Berndl

Bis zu 30.000 Personen bevölkern an den heißesten Tagen den zwei Kilometer langen Strand des Gänsehäufels. So populär das Sommerbad ist, so vergessen ist sein Gründer. Ein Tipp für Menschenmassenflüchtige: Die Anlage bei Schlechtwetter besuchen (werktags ab 9, samstags und sonntags ab 8 Uhr), und zwar als Wallfahrtsort! Nein, nicht irgendeine schwarze Madonna wartet auf der großen Insel in der hier see-ähnlichen Alten Donau auf die Pilgerinnen und Pilger. Die Wallfahrt soll einem gewissen Florian Berndl gelten, der hier unverfroren das Verschmähen vieler heiliger Anstandsregeln des 19. Jahrhunderts predigte.

«100 Jahre Gänsehäufel» feierte das offizielle Wien im Jahr 2007. «Am Gänsehäufel. Ein Strandbad wird 100» lautete auch der Titel einer Ausstellung, die im Wien Museum am Karlsplatz gezeigt wurde. Die offizielle Datierung des runden Geburtstages deutete darauf hin, dass der legendäre Gänselhäufel-Gründer Florian Berndl nicht die Würdigung erhalten sollte, die er verdient. Wer die wilde, aufregende Geschichte, die mit dem Namen Berndl verbunden ist, in die Historie des Bades hinein nimmt, hätte  2007 den 107. Geburtstag ausrufen müssen, nicht den hundertsten.

Der Umstand, dass es in dem beliebtesten Bad der Alten Donau einen Bereich der Verhüllten neben der Zone der Hüllenlosen gibt, ist so selbstverständlich geworden wie die Tatsache, dass man in jedem ordentlichen Wirtshaus ein Frauen- und ein Männerklo vorfindet oder an jedem ordentlichen Wasserhahn einen roten und einen blauen Knauf. Eine Wiener Stadtzeitung notierte anlässlich des (falschen) Jubiläums, dass selbst die Queer-Community im FKK-Bereich sich präsent geben dürfe, was für zentrale Badeanstalten im europäischen Vergleich keineswegs eine Selbstverständlichkeit sei. Diese Notiz hatten wiederum zwei meiner schwulen Freunde zum Anlass genommen, die behauptete Queer-Qualität des Gänselhäufels der Nackerbazis zu testen. Ihr Resümee: Der unerotisch-familiäre Charakter dieses Strandes übe für Schwule ihres Typs wenig Anziehung aus, es sei denn, man lege großen Wert auf die absolute Absenz von Hundstrümmerln und darauf, der «schwulen Szene» einmal gründlich aus dem Weg zu gehen. Aber selbst letztgenanntes Verlangen, als solches durchaus plausibel, könne besser – und gratis - im allgemeinen Nacktbereich der Donauinsel verwirklicht werden, abseits vom «Toten Grund», dem Areal Nr. 1 der Szene.

Auch wenn meine beiden Gänsehäufel-Muffel abwesend bleiben: Insgesamt schafften die Nackten Fakten. Wichtigstes Faktum: Zu einem Strand des Anstands im althergebrachten Sinn dieses Wortes kann dieses städtische Bad nicht mehr zurück entwickelt werden (es sei denn, die nächste Diktatur ist nicht nur neoliberal, sondern auch klerikal). Immer weniger Gänselhäufel-BesucherInnen wissen aber, dass dieser Hauch von Liberalität ein Erbe der wilden Anfangsperiode der Badeanstalt ist. Gänsehäufel-Erfinder Florian Berndl hat die Zurückweisung der überkommenen Moral der Badekultur vorgelebt und Tausende zur fröhlichen Mitwirkung an dieser Verwerfung angestiftet. Schon  die Annahme, dass Berndl ebenso viel zum Fall veralterter Moralvorstellungen beitrug wie Sigmund Freud, wäre Grund genug für ein konzentriertes Erinnern.

Ich empfehle, Lektüre mit aufs Gänsehäufel zu nehmen, die geeignet ist, die Berndl-Wissenslücke zu stopfen, etwa René Freunds im Picus-Verlag erschienenes Buch «Land der Träumer». Dem ist zu entnehmen, wie Florian Berndl, Sohn einer Waldviertler Schamanin, im Jahr 1900 eine wilde Insel in der Alten Donau zum Freiraum einer neuen gesellschaftlichen Bewegung machte, die die althergebrachten Normen der Badekultur, die Trennung der Geschlechter und die Dämonisierung der Nacktheit, zum Teufel schickte.

Kein Zufall, dass das Gänsehäufel-Geburtsjahr auch das Jahr der Gründung von «Monte Verità» war, jener Kolonie auf einem Hügel über der Schweizerischen Stadt Ascona (Tessin), die zu einem der zentralen Versuchsfelder für alternative Lebens- und Kunstformen zwischen der Jahrhundertwende und dem zweiten Weltkrieg wurde. KünstlerInnen und AussteigerInnen begannen hier ab 1900, die Utopie des «Zurück zur Natur» als praktische Antwort auf die rasche Industrialisierung in Europa in die Realität umzusetzen. VegetarierInnen, PazifistInnenn, NudistInnen, Freimaurer, Feministinnen, TheosophInnen, AnarchistInnen, SozialistInnen und Bohemiens fühlten sich gleichermaßen von der «Lebensreform»-Ideologie des Monte Verità angezogen. PR-Arbeit für diese Lebensweise machte dann vor allem der Autor Hermann Hesse, der sich auf der Kolonie einer langen Alkoholentziehungskur unterzog. Er trug mit seinen Texten und Büchern maßgeblich zum Hype dieses «Hügels der Spinner» bei. Das Wirken des österreichischen Proto-Hippies Berndl weist auf den weiten Aktionsradius der Lebensreform-Bewegung hin. Auch das verrückte Gänsehäufel hat KünstlerInnen angesprochen, etwa die Schriftsteller Peter Altenberg und Hermann Bahr oder den Burgtheaterdirektor Max Burckhard.

René Freund – um auf sein «Land der Träumer» zurückzukommen – beschreibt schließlich, wie die «anständigen» Medien solange eine Kampagne gegen den seiner Zeit vorauseilenden subversiven Wellness-Guru Berndl entfachten, bis die Politik nach ihrer Pfeife tanzte: Die Gemeinde Wien löste einseitig den Pachtvertrag mit Florian Berndl auf und errichtete 1907 das städtische Strandbad Gänsehäufel, in dem «Sitte und Anstand» wieder hergestellt wurden. Das Bad wurde nämlich dreigeteilt – in ein Damenbad, ein Herrenbad und ein Familienbad.
Die WienerInnen, unter anderem durch Freigeister wie Berndl «undiszipliniert» geworden, unterliefen diese Regulierung umgehend. Vor dem Gänsehäufel-Eingang entstand ein Badestrich. Jeder und jede konnte so eine Partnerin, einen Partner finden, um als fiktive Familie sich den Einlass in den gemischten Bereich zu erschwindeln. Der Satiriker und Kabarettist Richard Hutter hat dieser kleinen Wiener Hochsommeranarchie mit seinem Anekdotenbüchlein «Gänsehäufel» aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ein Denkmal gesetzt.

Seine (noch durch keinerlei Gender-Bewusstsein beeinflusste) Anleitung zur Überschreitung des Gemischtbadeverbots, die darin enthalten ist, nennt sieben Methoden, wie sich ein Solo-Mann in den begehrten Familien-, also gemischten Bereich einschmuggeln kann. Ich zitiere aus Punkt 4, der «Methode á la Bluff»: «Der allein zur Kasse kommende Junggeselle verlange mit ruhiger Sicherheit zwei Karten ins Familienbad. Auf die Frage der blonden Kassierin, wo die Dame sei, deute er leger nach rückwärts. Nicht selten glaubt die Kassierin, dass eine zufällig dort stehende Person weiblichen Geschlechts zu einem gehöre und verabfolgt einem die beiden Karten. Diese Methode ist mit Vorsicht anzuwenden, da die blonde Kassierin ein gutes Physiognomiegedächtnis besitzt.» Auch die «Tauchmethode» fehlt nicht in der Trickliste, allerdings könne man – im intersexuellen Gewässer auftauchend – leicht eine Ruderstange auf den Schädel kriegen, denn die Aufseher in ihren Schinakeln seien zahlreich und aufmerksam.

Berndl starb 1934. Er hätte noch 50 Jahre warten müssen, um die Wiederkehr des Nackten auf seine Insel zu erleben. Als Anfang der 1980er Jahre wegen eines Hochwassers die Nudistenfraktion der Donauinsel plötzlich ohne Liegewiesen dastand, eroberte sie sich einen Teil des Gänsehäufels: jene Zone, die nach einigem Hin und Her zum offiziellen FKK-SEktor wurde.»

Von Hubert Teubenbacher, damals noch als Badebetriebsmeister des Gänsehäufels, erfuhr ich, dass am 1. August 1981, dem Tag der offiziellen Zulassung der NudistInnen, das für diese reservierte Gelände erst halb so groß war wie der heutige FKK-Bereich. Gänsehäufel-Textil-Traditionalisten haben diese Liberalisierung nicht konfliktlos hingenommen. Beschwerden gab es natürlich vor allem von BadebenützerInnen, die ihre speziellen Liegeplätze verloren, an die sie sich im Laufe der Jahre gewöhnt hatten, sagt Teubenbacher. In einem Aufwaschen wurde in diesem «revolutionären» August im ganzen Gänsehäufel auch «oben ohne» erlaubt – drei Jahre nach der offiziellen «oben ohne»-Premiere im Krapfenwaldl-Bad.

Robert Sommer
 


INFO-BOX

Buchtipp:
„Land der Träumer“ von René Freund.
Picus-Verlag, ISBN/EAN: 9783854524038

Strandbad Gänsehäufel: http://gaensehaeufel.at/
Adresse: Moissigasse 21, 1220 Wien
Erreichbarkeit: U1 Kaisermühlen VIC,
- dann mit dem Bus 90A oder 92A bis Schüttauplatz
- oder mit dem Bäderbus (im 10 Minuten Intervall, gratis!)
- oder Spaziergang (ca. 10 Minuten
 an der Alten Donau entlang)
 

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23  Wohnpark Alt Erlaa

Wohnen wie die Reichen - und zwar für alle

Für seinen Spielfilm «Weiße Lilien» brauchte Christian Frosch einen Drehort, der die Aura einer in sich geschlossenen Stadt in der Stadt ausströmt. Er wählte den Wohnpark Alt Erlaa. «Ursprünglich hatte ich ihn schon im Kopf gehabt. Es war mir aber dann fast zu naheliegend. Dann dachte ich über rein digitale Lösung nach. Dann sah ich mir etliche Großbauten in Europa an, um dann zu erkennen, dass der Wohnpark Alt Erlaa in Verbindung mit digitaler Nachbearbeitung ideal ist. Ich brauchte für den Film einen Ort, der beinahe wie ein Stadtstaat wirkt. Der Wohnpark hat sowohl Infrastruktur und Größe, die eine solche Behauptung plausibel erscheinen lässt. Interessant fand ich, dass es auch ein Bau ist, in dem eine klassische Idee der Moderne, die der Wohnmaschine, mitgedacht ist. Es geht also um Lebenskonzepte», begründet der Filmemacher den Beschluss, die Filmhandlung in die Pyramiden-Stadt in Wien-Liesing zu stellen. «Der Begriff ‚Wohnmaschine’ kommt ursprünglich von Corbusier und meint massenhaftes Wohnen nach standardisierten Wohneinheiten in einem Hochhaus. Aber es steckt auch die Idee des ‚neuen Menschen’ drinnen. Es ist ein Ort, an dem das Leben des modernen Massenmenschen rational abgewickelt wird. Im Bau von Harry Glück in Alt Erlaa ist das natürlich sehr stark abgemindert, weil es in den siebziger Jahren entstanden ist, aber es schwingt noch mit. Es gibt Umfragen, wonach die Wohnzufriedenheit in Alt Erlaa überdurchschnittlich hoch ist, aber gleichzeitig auch die Selbstmordrate - ein schöner Widerspruch.»

Für Walter Eckhart, Wohnblock B, Stiege 4, heute neunter Stock, ist die Aussage des Filmemachers nur die intellektuellere Variante einer hartnäckigen Vorurteilspflege, die unter anderem von den Zeitungen ausging – einerlei ob es sich um Qualitäts- oder um Boulevardmedien handelte. Eckhart, der im Herbst 1979 seine erste Wohnung im Wohnpark, im 24. Stockwerk bezog, hat noch die Kronenzeitungstitel im Kopf – und das, was die Menschen der Krone nachplapperten. Die Revolverjournalisten wussten nicht, ob sie MieterInnen der Wohnblöcke wegen ihrer «Privilegien» verurteilen oder sie vor der «Menschenmassenhaltung», vor dem «Hineingepferchtsein» (das ja notwendigerweise zu Verbrechen führen würde) retten sollten. Sie  taten beides gleichzeitig, und die ihnen Hörigen taten dasselbe. Pseudohumanistisch kritisierten sie die «Verhausschweinerung» des Menschen, andererseits fanden sie die Ausstattung der Wohnblöcke mit Dachbädern (mit überwältigender Aussicht), Saunen und Hallenbädern, alles für die BewohnerInnen gratis, als für eine Prolo-Hochburg völlig unadäquat und verschwenderisch.

Wohnmaschine? Arbeiterschließfächer? Walter Eckhart kann sich heute noch über die weite Verbreitung dieser Klischees ärgern: «10.000 Menschen leben hier im Wohnpark. Es ist trotzdem nicht wie ein Ort, wo man sich ständig über den Weg läuft. Schau, wie großzügig die Parkanlage zwischen den Blockreihen gestaltet ist. Sechs Hektar Grün liegen zwischen dem A- und dem B-Block.» Er weist auf einen weiteren Vorteil der Anlage hin: Sie ist fast modellhaft barrierefrei. «Das ist nicht nur für mich als Rollstuhlfahrer relevant. Das kommt den Leuten mit Kinderwägen und den Leuten mit Einkaufswägen zugute, und nicht zuletzt den PensionistInnen mit ihren Gehhilfen auf Rädern».

Wie überall kreisen viele Konflikte um das Thema Lärm. Das Glenn Miller Revival-Experiment einer Wohnpark-Big Band musste nach wenigen Konzerten abgebrochen werden. Die Proben der bis zu 30 MusikerInnen umfassenden Formation stellten für manche MieterInnen eine Lärmerregung dar. Auch wenn er in seiner Wohnung allein Trompete übte, gab es lange vor 22 Uhr heftige nachbarliche Protestklopfzeichen. Einmal wurde der Konflikt so gelöst, dass es zum Austausch der Leiden kam: «Ich durfte vor 22 Uhr Trompete spielen, dafür erklärte ich mich bereit, die Klavierstunden der Nachbarstochter, die entsetzlich falsch spielte, zu ertragen», lacht Walter Eckhart.

Er zeigt mir auf einem Schaufenster die Liste der Klubs, in denen BewohnerInnen des Wohnparks Alt Erlaa organisiert sind. Ich lese: Bridgeclub, Briefmarkenklub, Chess-Chor Alt Erlaa, Foto-Video-Club, Freunde von Alt Erlaa, Fußball for Kids, Gymnastikclub, Katholische Pfarrgemeinde, Verein Ju Jitsu Ryu Tsunami, Kaufleuteclub, Keramikclub, Kraftsport- und Fitnessclub, Modellautorennsportklub, Modellbauclub, Modelleisenbahnclub, Alpenvereinssektion Alt Erlaa, Pfadfinder (zwei «rivalisierende» Vereine, R.S.), Sportschützen, Tanzclub, Tanzsportlclub, Tischtennisclub, Wohnpark-Freizeit-Club … Die Voraussetzung, dass sie die Clubräume des Wohnparks gratis benützen dürfen, ist ihre Registrierung bei der Vereinsbehörde. Aus der Sicht der Stadtplanung ist diese Dichte der ehrenamtlichen Arbeit und der selbstorganisierten Freizeitgestaltung der Bevölkerung ein Segen, bedeutet sie doch, dass die involvierten Menschen überdurchschnittlich viel Freizeit im unmittelbaren Wohnumfeld verbringen. Und genau das bestätigte die Studie «über die Wohnzufriedenheit sowie das Freizeit- und Mobilitätsverhalten ihrer Bürger im geförderten Wohnbau», die die Wiener Stadtplanung im Jahr 2000 präsentierte. Aus dem Vergleich repräsentativer Wohnanlagen älteren und jüngeren Datums gingen als Testsieger drei Projekte des Architekten Harry Glück hervor – an erster Stelle der «Wohnpark Alt-Erlaa». Die Vielfalt des Vereinslebens bedeutet: Die Menschen steigen signifikant weniger oft ins Auto, um aus der Stadt zu flüchten. Und das bedeutet wiederum, dass sie weniger zur Zersiedlung des Stadtumlands durch Zweitwohnsitze beitragen. Der Wohnpark ist dadurch – obwohl er in einer Zeit konzipiert wurde, in der ökologische Kriterien noch eine geringe Rolle spielten – umweltverträglicher als viele der gut gedämmten so genannten Ökobauten.

Reinhard Seiß, Autor und gefragtester Kritiker der Wiener Stadtplanung, verwies in einem Essay in der «Wiener Zeitung» auf die Quantität von Gemeinschaftseinrichtungen, die im geförderten Wohnbau nachher nie mehr wiederholt wurde. «Am spektakulärsten», schrieb er, «sind aber zweifellos die sieben Dachschwimmbäder in 70 Meter Höhe. Glück baue um öffentliches Geld Swimming Pools für die Proleten, lautete eine der bösartigen Kritiken an der geförderten Wohnanlage.» Dabei komme den Bädern die entscheidende «bandstiftende Funktion» zu, wie der Architekt es nenne -– wie im Dorf die Kirche, das Wirtshaus oder der Kaufmann. Die Pools würden, so Reinhard Seiß, von über 90 Prozent aller Mieter in Anspruch genommen, von 70 Prozent sogar regelmäßig. Sie erfüllten damit die wichtige Funktion, Kommunikation unter den Bewohnern zu fördern.

«Wohnen wie die Reichen - und zwar für alle», lautet Glücks Motto, mit dem er sich bewusst auf die Arbeiterpaläste des Roten Wien der 20er und frühen 30er Jahre bezieht. Seiß zitiert den Architekten: «Die Geschichte zeigt deutlich: Wer so leben konnte, wie er leben wollte, schuf sich stets eine Wohnung mit freier Aussicht und Bezug zur Natur, mit Wasser im Umfeld sowie Möglichkeiten zur Geselligkeit und zu spielerischer Entfaltung.» Getreu dieser Idee gab Glück der Natur im Wohnpark Alt-Erlaa einen Platz, wie er im aktuellen Wohnbau nicht mehr vorstellbar ist, zumindest  nicht im Wohnbau für nichtprivilegierte MieterInnen.  Glücks Grünraumplanung gälte heute als verschwenderisch.

Reihhard Seiß fährt in seiner Elegie für Glück´s Wohnpark fort: «Dass Alt-Erlaa keine gewöhnliche Großwohnanlage ist, zeigt sich seit jeher auch an der sozialen Durchmischung der Bewohner. Stolz erzählt man von den vielen Prominenten, die hier gelebt haben oder noch immer Alt-Erlaaer sind: Goleador Hans Krankl etwa, der in Block A wohnte, bevor er nach Barcelona ging - oder sein Nationalteamkollege Willi Kreuz, der heute im Kaufpark eine Trafik betreibt. Und dass das Glück'sche Wohnmodell nach wie vor auch für jüngere Menschen attraktiv ist, beweist der Umstand, dass sich die mittlerweile erwachsene Kindergeneration aus Alt-Erlaa in auffallend großer Zahl wieder um Wohnungen in den drei Blöcken bemüht.»

Trotz seiner offenkundigen Qualität werde Alt-Erlaa bis heute von der Wiener Architektenszene – die mittlerweile selbst an Hochhäusern Gefallen gefunden habe – in seltener Einigkeit abgelehnt, staunt Seiß. Er wisse, dass Glück wahrgenommen habe, dass sein Bau in den Wiener Architekturführern keinerlei Erwähnung findet - im Gegensatz zu jenen Wohnquartieren des 23. Bezirks, die seit kurzem den Wohnpark umgeben. «Dass die Bewohner der benachbarten Neubauten die Infrastruktur und - heimlich - auch die Dachschwimmbäder von Alt-Erlaa mitnutzen, zeigt, wie weit formale Architekturkritik und erlebte Wohnqualität auseinanderliegen können», ätzt Seiß. Und weiß zum Schluss eine Anekdote zu berichten, die ihm Glück anvertraut hat: «1985 kam ein Team des Bayerischen Fernsehens nach Wien, um das vermeintliche Hochhausghetto Alt-Erlaa den postmodernen Wohnhäusern der IBA Berlin gegenüberzustellen. Aus dem geplanten Verriss wurde jedoch eine Eloge, die bald auch Folgeaufträge aus dem Ausland nach sich zog. Glücks Kommentar: Das war ein 9:0-Erfolg Österreichs über Deutschland, noch dazu in einem Auswärtsmatch!"

Robert Sommer


INFO-BOX

Adresse Wohnpark Alterlaa:
1230; Anton Baumgartner Straße (U6-Station: Alterlaa)

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